Lesben-Power im Rock und Country. Heimlich schwul in der Boygroup oder versteckt hinter dem DJ-Pult. Rebellischer Flirt mit Bisexualität. Queer Punks und Riot Girrrls gegen Homophobie. Der Aufstieg des Drag-Imperiums. Geschichten, Bilder und Videos aus den queeren 90er-Jahren zusammengetragen von DJ Ludwig.
- Country: Die Lesbe kommt gross raus, der Schwule gibt auf
- Die Rock-Ladys, die Frauen lieben
- Trotz maskulinem Auftritt übers Ohr gehauen
- Heimlich schwul in der Boygroup, Möchtegern-Lesbe in der Girlgroup
- Clubkultur – geprägt von der Gay-Disco
- Junior Vasquez vs. Madonna
- Der Aufstieg des Drag-Imperiums
- Im Untergrund gärt die Wut
- Upps, ich habe ein Mädchen geküsst
- Playlist
1989 fiel in Berlin die Mauer zwischen Ost und West und läutet damit einen politischen Umbruch ein. Ein Jahr später läuft in allen Radios «Freedom! ’90» von George Michael. Er verabschiedete sich darin von seinem alten Ich als Teen-Idol, um zu neuen künstlerischen Freiheiten aufzubrechen. 1992 starb Freddie Mercury an Aids woraufhin Elton John seine Aids Foundation gründete, endlich seine Drogensucht bekämpfte, sein grosse Liebe David fand und mit RuPaul 1994 «Don’t Go Breaking My Heart» sang. Nachdem in den 80er-Jahren viele berühmte und weniger berühmte schwule Musiker – einige offen, andere heimlich – die Charts dieser Welt eroberten, wurde es nach der Aidskrise ruhig um sie. Einige starben an der Krankheit, andere versanken im Drogensumpf. Nur wenige konnten den Erfolg aufrechterhalten wie eben George Michael und Elton John. Das schrille Spiel mit dem Geschlecht, die exaltierte Kostümierung und die düstere Endzeitstimmung der 80er waren out. Schwule waren in den 90er-Jahren weit weniger sichtbar als noch in der Dekade davor, oder sie versteckten sich weiterhin hinter einem Hetero-Image, wie beispielsweise die Latin Lovers Ricky Martin und Tiziano Ferro, oder hinter dem DJ-Pult und im Studio. So wurde die Bühne frei für den Auftritt von lesbischen Musikerinnen, die nicht auf Kostüme angewiesen waren, um auf sich aufmerksam zu machen – und sich nicht versteckten. Es waren ihre Stimmen und ihre Haltung, die sie zu LGBT-Heldinnen machten, und die den Weg bereiteten für künftige queere Musiker*innen .
Country: Die Lesbe kommt gross raus, der Schwule gibt auf
Sie hat die Stimme eines Engels und sieht aus wie eine Butch. Für eine Frau, die gerne Country Sängerin werden will, sind das keine guten Voraussetzungen, denn im Country müssen Frauen ultraweiblich und Männer Supermachos sein. Doch die Kanadierin k.d. lang (sie besteht darauf, das ihr Name immer in Kleinbuchstaben geschrieben wird), hat es all den Vorurteilen zum Trotz zu internationalem Ruhm gebracht.
k.d. lang wuchs in einem Kaff in der kanadischen Provinz Alberta auf. Schon als Kind entdeckte sie ihre Liebe zu Countrymusik. Dass sie selbst Sängerin werden will, beschloss sie, als sie während ihrem Musikstudium in einer Theateraufführung über die legendäre Country Sängerin Patsy Cline mitspielte. Bald darauf traf sie Ben Mink, der sie fortan musikalisch begleitete, und mit dem sie viele Songs schrieb. Mitte der 80er-Jahre gelang ihr der Durchbruch in ihrer Heimat. Ihr nächstes Ziel war Amerika. Wer im Country reüssieren will, muss nach Nashville. Dort zeigte man sich wegen ihrer diffusen Geschlechtlichkeit ihr gegenüber etwas skeptisch. Ihre Stimme ist jedoch so überzeugend, dass sie einen Plattenvertrag bekam. Und sie konnte Owen Bradley, den ehemaligen Produzenten von Patsy Cline, überreden, mit ihr ein Album aufzunehmen. Schliesslich wurde sie von Roy Orbison als Duett-Partnerin für eine Neuaufnahme von «Crying» eingeladen. k.d. lang aber wurde nicht glücklich in Nashville und zog sich zurück.
In Vancouver hat k.d. lang sich als Popsängerin neu erfunden, und sie schrieb mit Ben Mink Songs für ein neues Album. «Ingénue» wurde 1992 veröffentlicht, hat sich millionen mal verkauft und sahnte den Grammy für die beste Pop-Performance ab. Die Single «Constant Craving» wurde ihr grosser Hit. Gleichzeitig machte sie ihr Coming out. Über diese Zeit erzählte sie dem Guardian: «Das Jahr 1992 war für mich ein Wendepunkt, weil ich mich im Magazin The Advocate als lesbisch geoutet und «Constant Craving» als Single veröffentlicht hatte. Daraufhin konnte ich ein Fotoshooting für Vanity Fair machen. Ich hatte den französischen Film «Le mari de la coiffeuse» gesehen und hatte die Idee, in einem Friseursalon abgebildet zu werden. Also machte mein Freund Herb Ritts ein Foto von mir, wie ich von Cindy Crawford rasiert wurde. Das Foto kam auf die Titelseite und wurde zu einer riesigen Sensation! Die Leute fingen sogar an, Cindys Sexualität in Frage zu stellen! Auf dieses Cover bin ich sehr stolz. Ich bin mir nicht sicher, ob «Constant Craving» ohne das Coverfoto so ein grosser Hit geworden wäre, und ich glaube nicht, dass ich ohne «Constant Craving» in The Advocate oder Vanity Fair gelandet wäre. Es war einer dieser Momente, in denen es klick macht.»
Darauf folgten Jahrzehnte mit Konzerttouren um die ganze Welt, Filmauftritten und weiteren Alben. Im Sommer 2020 hat k.d. lang auf BBC verkündet, dass sie sich aus dem Musikgeschäft zurückzieht. «Die Muse weicht mir aus», ist ihre Begründung. Doch es gibt ihr Hoffnung, dass man heute im Radio Lieder hört, in denen auch mal ein Typ über einen anderen Typen singt. «Es ist fast, also ob die Geschlechtskategorisierung endlich ausgerottet wird, was schön ist, was einige von uns immer wollten», erfreut sich k.d. lang, die Pionierin des genderfluiden Pops.
Er hat eine tiefe Stimme, trägt Karohemden, einen fetten Schnauz im Gesicht und zeigt gerne seine behaarte Brust – Mark Weigle ist ein Bild von einem Macker! Also der perfekte Country Sänger? Nicht, wenn man darüber singt, dass man mit Männern fickt. Mark Weigles Weigerung, sich dem Erfolg zuliebe, als Hetero zu verkaufen, verhinderte eine grosse Karriere als Country Sänger bereits in den Anfängen, als er 1998 sein Debüt-Album «The Truth Is» herausbrachte. Umso mehr wurde Mark Weigle von der Gay-Community verehrt für Songs wie «Two Cowboys Waltz», «Out», sein Duett mit dem Gay-Country-Pionier Steve Grossman (mehr über ihn hier) oder seinem sexy und witzigen Song «These Lips of Mine (Made for Suckin’ You)».
Dafür, dass Mark Weigle so offen übers Schwul-Sein singen konnte, brauchte er etwas Zeit. In den 80er-Jahren spielte er noch in einer Heavy-Metal-Band, trug seine Haare lang, sprang auf der Bühne in Spandex rum und schrie sich die Seele aus dem Leib. Doch Markt hatte seine Probleme damit, schwul und nicht out zu sein. «Mich gegenüber meiner Band zu outen war mein grösster Coming out-Schritt. Erst danach outete ich mich bei meiner Familie.» Doch er wollte schwuler sein, als die Band das gut heissen konnte. Also verliesse er die Band und schnitt sein langes Haar ab. Er besuchte Kurse um ein Gay-Aktivist zu werden, weil damals so viele an Aids gestorben waren, dass dringend Nachwuchs gebraucht wurde. Seinen neu gewonnenen Aktivismus setzte er musikalisch um. Er schrieb und sang Lieder über Homoliebe, Gay-Sex, Diskriminierung und HIV/Aids. Er spielte seine Songs auch Produzenten in Nashville vor. Die fanden, er hätte das Zeugs zum Mainstream-Star, gaben ihm aber zu verstehen, nicht wenn er offen schwul ist. «Doch ich war bereits out und wollte nicht zurück. Ich habe mich entschieden, übers Schwul-Sein zu singen, weil ich es eben bin. Ich finde, was schwule Lebenserfahrungen betrifft, gibt es viele nie erzählte Geschichten, ganz besonders in der Musik. Ich schreibe beispielsweise Lieder über einen verheirateten Mann, der zum ersten Mal Sex mit einem andern Mann hat; oder über einen Mann, der seinen Partner an Aids verloren hat; auch über meinen eigenen positiven HIV-Status und wie viel Medikamente ich deswegen schlucken muss.» Mit diesen expliziten Texten erreichte er damals ausschliesslich ein schwules Publikum. Er stellt 2002 in einem Interview ernüchtert fest, dass «heterosexuelle Leute nicht bereit sind, schwule Erfahrungen zu erkunden.» Deutlich frustriert verabschiedete er sich 2007 von seinen Fans mit diesen Worten: «Ich habe meine Musikkarriere wegen mangelnder Unterstützung abgebrochen. Ich habe meine Muse und meine Karriere der Schwulen-Welt gewidmet. Doch die scheint hauptsächlich an heterosexuellen Prominenten, hübschen 20-Jährigen, Pornostars und Dragqueens interessiert zu sein. Ich habe alle meine CD selbst produziert und bezahlt. Ich wollte nie Geschäftsmann werden und zahle heute immer noch Schulden ab. Ein herzliches Dankeschön an die Leute, die mich unterstützt haben und nett waren. Ich habe jetzt ein Landschaftsbau-Business gegründet und unterrichte Englisch für Tagelöhner an der Strassenecke.»
Um Mark zu widersprechen: Es war durchaus möglich, in den 90ern offen homosexuell die Charts zu erobern. Das zeigte k.d. lang, die allerdings selten explizit lesbische Lyrics sang, und Melissa Etheridge, die es verstand, LGBT-Anliegen massenkompatibel zu verkaufen.
Die Rock-Ladys, die Frauen lieben
Melissa Etheridge wuchs in einem Haus der Zahlen auf. Ihr Vater war Mathematiklehrer und ihre Mutter Computerspezialistin. Doch Melissa hatte es eher mit den Noten. Schon mit 8 Jahren begann sie Gitarre zu spielen und mit 13 hatte sie ihren ersten Auftritt. Als sie 26 Jahre alt wurde, unterschieb sie einen Vertrag mit Island Records. Bereits ihr Debütalbum wurde mit Platin und Gold ausgezeichnet. Auf diesem Album war auch ihr erster grosser Hit «Bring Me Some Water» (1989).
Dass sie auf Frauen steht, war der geneigten Hörerschaft zwar klar, doch erst 1993 machte sie ihre Homosexualität öffentlich. Und das nicht irgendwo, sondern beim Triangle Ball, einer LGBTQ-orientierten Feier zur Amtseinführung von US-Präsident Bill Clinton. Etheridge sagte damals, dass k.d. lang eine Inspiration zum Outing war. «Ich bin stolz, hier sagen zu können, mein ganzes Leben lang lesbisch gewesen zu sein», erklärte Etheridge mit ihrer unverwechselbaren kratzigen Stimme. Solche Proklamationen waren damals äusserst selten, insbesondere bei Mainstream-Künstlern. Als Etheridge daraufhin ihr treffend betiteltes viertes Album «Yes I Am» veröffentlichte, katapultiert dieses sie zum internationalen Star. Auf diesem Album war auch ihr Über-Hit «Like the Way I Do» zu finden, der noch heute bei Lesben als Party-Klassiker gilt, und der 2004 von der kanadischen Band Lesbians on Ecstasy kongenial gesampelt wurde in ihrem Underground-Elektro-Hit «Tell Me Does She Love The Bass».
Als international bekannte Lesbe und Rockmusikerin ist Melissa Etheridges Privatleben gut dokumentiert. Sie hat zwei Ex-Frauen mit denen sie je zwei Kinder hat. Für die ersten beiden Kinder bekamen sie das Sperma des bekannten Musikers David Crosby. 2014 hat Melissa Etheridge ihre dritte Frau, die Regisseurin und Produzentin Linda Wallem geheiratet. Auch wenn sie sich aktiv für Frauen- und LGBTQ-Rechte einsetzte, hat sie ihre Gitarre nicht beiseite gelegt. Sie schreibt und singt weiterhin Songs, denn ihre Stimme will gehört werden.
Ein besonderer Auftritt: Zwei Lesben-Ikonen harmonisieren auf der Bühne. Melissa Etheridge und k.d. lang singen «You Can Sleep», 1994 an einer Aids-Benefizveranstaltung.
Amy Ray und Emily Saliers freundeten sich bereits in der Grundschule in Atlanta an. Zwei lesbische Teenager haben sich gefunden, und sie machten gemeinsam Musik. Mit 17 Jahren nahmen sie erste Demos auf und veröffentlichten unter dem Namen Indigo Girl 1985 ihre erste Single «Crazy Game». Mit ihrem Folk-Rock und ihrem Harmoniegesang lagen sie im Trend und erhielten 1988 einen Plattenvertrag bei Epic Records. Bereits 1990 gewannen sie einen Grammy für «Best Contemporary Folk Album». In dieser Dekade kam ein Erfolg nach dem andern. Ihre Alben verkauften sich gut, die Konzerte waren ausverkauft und sie konnten in Ellen DeGeneres Sitcom Ellen auftreten. Nachdem die Verkäufe in den 00er-Jahren zurück gingen verliessen sie Epic Records, um für ein einziges Album zu Hollywood Records zu wechseln. «Despite Our Differences» wurde zwar eines ihrer besten Alben, war aber nicht besonders erfolgreich. Seither bringen sie ihre Alben auf ihrem eigenen Label IG Recordings heraus. Heute leben beide Indigo Girls in festen Beziehungen und haben Kinder. Amy Ray ist mit der Filmemacherin Carrie Schrader zusammen und Emily Saliers heiratete 2013 ihre Tourmanagerin Tristin Chipman.
Einen wunderbaren Live-Auftritt der Indigo Girls in den 90ern, bei einer anderen Lesben-Ikone des US-TV, Rosie O’Donnell, gibt es hier.
Trotz maskulinem Auftritt übers Ohr gehauen
Marla Glens Markenzeichen ist ihre einzigarte Reibeisenstimme, ihre übergrosse Persönlichkeit und ihr maskulines Styling. «Ich kam genau so aus der Vagina meiner Mutter – inklusive Nadelstreifenanzug», lacht Marla laut und macht die Hebamme nach: «Oh, Moment, da kommt ja noch der Hut!»* Das war 1960 in Chicago. Ihr musikalisches Talent wurde schnell offensichtlich. Von der Blueslegende Muddy Waters, einem Freund der Familie, bekam sie zum 5. Geburtstag eine Spielzeugmundharmonika geschenkt und mit 11 Jahren schrieb sie ihren ersten Song. Kaum aus der Schule tingelte sie durch die Konzertlokale ihrer Stadt. Zwischenzeitlich arbeitet sie als Assistentin für die grosse Sängerin Nina Simone. Ihre Chefin ist ihr nicht unähnlich. Beide haben sie eine politische Botschaft und einen exzentrischen Charakter, mit denen sie oft anecken.
Bei einem Musikwettbewerb gewann Marla Anfangs der 90er-Jahre den ersten Preis, ein Flugticket nach Frankreich. Nach ihrem ersten Auftritt vor einem europäischen Publikum wurde sie eingeladen, hier zu bleiben. Sie folgte der Einladung und nahm 1993 ihr erstes Album «This Is Marla Glen» auf. Dieses war damals in fast jedem queeren Haushalt zu finden, und nicht nur dort! Zweifach Gold und Platin gab es für das Debüt. Sie blieb in Europa und verfolgte ihre Karriere weiter. Auch ihr zweites Album mit dem Hit «Believer», der auch für eine C&A-Werbung verwendet wurde, verkaufte sich prächtig. Bald merkte Marla Glen jedoch, dass sie übers Ohr gehauen wurde. Das Geld landete nämlich nicht bei ihr, sondern in den Taschen ihrer Manager und der Plattenfirma. Jahrelang kämpfte sie vor Gericht für ihre Rechte. Darunter litt ihre Karriere. «Ich bin viel umgezogen, wegen all’ der Probleme mit den gierigen Menschen. Ich war immer wieder in Situationen, in denen ich aus meiner Wohnung gekickt wurde. Ich war letztlich nur am Überleben und wusste oft nicht mal, wie ich meine Miete bezahlen sollte oder wo meine Briefe ankommen würden» erzählte sie dem Magazin Männer*. Inzwischen konnte sie sich aus den Knebelverträgen lösen und ist jetzt unabhängig und frei. Seit 1998 lebt sie in Deutschland. Das Management übernahm ein treuer Fan, eine liebe Frau aus der Schweiz (SRF-Doku), und 2004 heiratet Marla im Rathaus von Heilbronn. Von ihrer Frau ist sie inzwischen wieder geschieden, doch nicht von ihrem Publikum, das ihr stets treu geblieben ist. 2020 kam ihr letztes Album «Unexpected» raus. Sie gibt weiterhin Konzerte und ist mit sich im Reinen. Marla Glenn ist zurück, auch wenn sie «The Cost Of Freedom» – wie ihr erster Hit hiess –, also den Preis der Freiheit zahlen musste.
Marla Glen singt ihren Hit «Believer», live 1993.
Heimlich schwul in der Boygroup, Möchtegern-Lesbe in der Girlgroup
In den 90er-Jahren waren Boy- und Girl-Groups das grosse Ding im Popbusiness. Die Spice Girls überstrahlten dabei alle mit ihrem poppigen und frechen Girl-Power-Feminismus. Sporty Spice Mel C. war damals der Tomboy der Gruppe. Heute setzt sie sich für LGBT-Rechte ein, auch wenn keiner der Buchstaben auf sie zutrifft. Als die Spice Girls damals die Welt eroberten, wurde Mel oft für eine Lesbe gehalten, doch das störte sie nicht, und sie sagte sogar im Interview mit dem Frauenmagazin Closer: «Es gab Zeiten in meinem Leben, wo ich gedacht habe: Ich wünschte, ich wäre eine Lesbe.»
Bei den Boygroups war es gerade andersrum. Da wünschten sich viele schwule Fans, dass einer der Boys wie sie vom anderen Ufer wäre. Die Zielgruppen dieser Boybands sind jedoch Teenagermädchen, und die – glaubte zumindest das Management – wollen nicht für schwule Jungs schwärmen. Es wurden den Bandmitgliedern verboten über ihre Sexualität zu sprechen, um die Fantasie der Mädchen nicht zu zerstören. Wie sich später herausstellte, waren doch einige Gays darunter. Für Schlagzeilen sorgte die Liebesgeschichte von Stephen Gately und Eloy de Jong. Gately war Mitglied von Boyzone, der irischen Konkurrenz der Briten Take That. Im Juni 1999 outete sich Stephen Gately als erstes Mitglied einer Boyband als schwul und machte gleichzeitig bekannt, dass er in einer Beziehung mit Eloy de Jong ist, einem ehemaligen Mitglied der niederländischen Boyband Caught in the Act. Anders als vom Management befürchtet, erhielten die Verliebten von den Fans Unterstützung und das Outing wurde in den Medien und von der Öffentlichkeit positiv aufgenommen. Das Paar trennte sich 3 Jahre später. Stephen Gately machte nach der Auflösung von Boyzone solo weiter und trat in Musicals am West End auf. 2009 starb Gately überraschend während seinen Ferien auf Mallorca an den Folgen eines nicht diagnostizierten Herzfehlers. Eloy de Jong ist heute Schlagersänger und gern gesehener Gast im Deutschen Fernsehen. Mit seinem neuen Partner hat er eine Familie gegründet. Sie haben eine Tochter, die sie zusammen mit der Mutter in einer Co-Elternschaft grossziehen.
Clubkultur – geprägt von der Gay-Disco
Ende der 70er-Jahre wurde der von schwulen DJs und Veranstaltern geprägte Disco von homophoben und rassistischen Menschen für tot erklärt. Ihnen war die Partykultur, bei der sich die Aussenseiter der Gesellschaft zum Tanzen trafen, ein Gräuel. (Mehr dazu hier). Zwar verschwand darauf hin das Wort Disco tatsächlich, doch nicht die Idee des gemeinsamen Feierns ohne Ausgrenzung von Gästen mit anderer Sexualität oder Hautfarbe. Aus Disco wurde Hi-NRG, Electro-Pop und später House, Garage und Techno. In den 90er-Jahren erlebte die Kultur des gemeinsamen Tanzens ein Comeback. Die Diskotheken nannten sich jetzt Clubs, die Partys wurden zu Raves. Es entstand die Clubkultur, die bis heute Bestand hat. Auch die DJs änderten sich. Waren sie zu Beginn einfach Plattenaufleger, wurden sie in den 90er-Jahren auch zu Remixern und Produzenten. Mit ihren Remixen machten sie Charts-Hits clubtauglich und produzierte in ihren Studios eigene Tracks. So wurden die DJs zu Stars. Doch im Gegensatz zu den Popstars tauchten sie nicht in der Boulevard-Presse auf. Wer hinter den Namen stand, interessierte die Leute nicht besonders. Die DJs verstanden sich ja auch nicht als Vermittler von Botschaften, wie es viele Musiker*innen tun, ihr einziges Ziel ist es, die Menschen auf die Tanzfläche zu bringen und eine gute Stimmung (mit Hilfe von Drogen) zu verbreiten. Mit ihrem Hit «Groove Is In The Heart» brachte die queere Gruppe Deee-Lite 1990 dieses Lebensgefühl der Club-Kids auf den Punkt. Wie schon bei Disco waren viele House- und Techno-DJ und Partyorganisatoren schwul und trugen damit das Erbe der Gay-Rights-Bewegung und Disco der 70er-Jahre in ein neues Jahrzehnt. Drei schwule DJs verdienen eine besondere Erwähnung: Frankie Knuckles, Larry Levan und Junior Vasquez.
Frankie Knuckles war von Anfang an dabei. Schon als Teenager in den 70er-Jahren legte er in Diskotheken in New York auf. Dort traf er auf Larry Levan, der ebenfalls als DJ tätig war und 1976 Resident-DJ und Mitbegründer der Diskothek Paradise Garage wurde. Sie ist die Mutter aller Nachtclubs, wie wir sie heute kennen. Dort entwickelt Larry Levan seinen Sound, den Garage. Frankie Knuckles wurde Resident-DJ im legendären Warehouse in Chicago, das zu Beginn – wie Paradise Garage auch – fast nur von Schwulen besucht wurde. Aus seiner revolutionären Mix-Technik von Disco- und R’n’B-Musik entwickelt Frankie Knuckles seinen Stil, der angelehnt an seinen Stammclub House genannt wurde. Dieser neuartige Sound lockte ein grösseres Publikum an. Als das Warehouse 1982 seine Eintrittspreise verdoppelte, war Knuckles so empört, dass er den Club verliess und einen eigenen eröffnete. Dieser wurde allerdings bald wieder geschlossen. In den frühen 90er-Jahren kehrte er zurück in seine Heimatstadt New York. Das Paradise Garage war inzwischen geschlossen und Larry Levan, der 1990 noch das Soundsystem für den grössten Club in London, das Ministry of Sound entwarf, starb 1992 auf einer DJ-Tour in Japan. Knuckles fand einen Job als Resident-DJ in der Sound Factory.
Für Frankie Knuckles ging es in den 90ern erst richtig los. Die Stars klopften an seine Tür, weil sie wollten, dass er ihre Songs für die Clubs neu abmischt und sie mit seinen House-Beats unterlegt. Er machte Remixe für Stars wie Michael und Janet Jackson, Diana Ross und Madonna, um nur die Bekanntesten zu nennen. Er soll angeblich über 200 Remixe produziert haben. Knuckles war zudem der erste, der 1997 einen Grammy Award als Best Remixer gewann. Knuckles produziert auch eigene Tracks, wie «Your Love» und «The Whistle Song» und sogar ein ganzes Album für die Disco-Diva Adeva. Ausserdem wurde er weltweit gebucht und tourte als DJ um den ganzen Globus. Im Jahr 2000 hatte Frankie Knuckles einen Auftritt in der Schweiz. Er nutzt die Gelegenheit, um es mit Snowboarden zu versuchte. Prompt brach er sich mehrere Mittelfussknochen. Der Arzt riet ihm, um seinen Fuss zu retten, ein Jahr lang Pause zu machen. Aber Knuckles konnte es sich nicht leisten, mit dem DJing aufzuhören. Von Jahr zu Jahr wurde sein Fuss schlechter und er entwickelte zudem Diabetes. 2008 musste er den Fuss amputieren. «Als ich sah, dass er weg war, musste ich erst mal weinen.» erzähle er. «Aber als ich am nächsten Morgen aufwachte fühlte ich mich 1000% besser. Ich wusste nicht, wie viel Schmerzen ich hatte, bis er weg war. Es war wie … plötzlich kam die Sonne heraus.» Doch Diabetes war damit nicht weg. Ihr erlag Frankie Knuckles schliesslich 2014 im Alter von 59 Jahren.
Frankie Knuckles mit seiner Muse Adeva «Too Many Fish» von 1995.
Junior Vasquez vs. Madonna
Madonna war in den 80ern als Club-Kid auf der Suche nach Ruhm in den Diskotheken von New York unterwegs. Sie tanzte zur Musik schwuler DJ-Legenden wie Frankie Knuckles, Larry Levan, David Mancuso, Nicky Siano und auch zum Sound von Junior Vasquez, mit dem sie sich befreundete. Junior Vasquez, der eigentlich Donald Paul Mattern heisst, war der Nachfolger von Knuckles in der Sound Factory. Die Gerüchteküche sagt, dass die beiden Männer sich als Konkurrenten sahen, nicht als Freunde. Auch Junior Vasquez war neben seinen Auftritten als DJ als Remixer tätig. Er hat für Divas gearbeitet, die das Herz eines jeden Schwulen höher schlagen lassen: Dolly Parton, Whitney Houston, Cher, Cindy Lauper, Christina Aguilera, Britney Spears, Beyoncé und noch viele mehr. (Nur so nebenbei, er fand Cher die netteste und Cindy Lauper die schrecklichste.*)
Junior Vasquez 1993 in der Sound Factory. So war war die Gay-Clubkultur damals. Eigentlich nicht viel anders als heute, wenn man sich die Bilder ansieht.
Eine besondere Beziehung hatte Vasquez zu Madonna. Er half Shep Pettibone, dem Produzenten und Songwriter von Madonna, im Studio bei den Aufnahme zu «Erotica» (1990), machte einige Remixe fürs Album «Bedtime Stories» (1994) und bereits 1990 war eine seiner Partys für Madonna Inspiration zur Hitsingle «Vogue». Mit diesem Song und Video machte Madonna die verborgene Kultur der LGBT-Szene in Harlem, das Voguing, für die ganze Welt sichtbar. Auch im Dozkumentarfilm «In Bed with Madonna» (1991) wurden neben der Diva ihre schwulen Tänzer prominent thematisiert. Damals gab es keinen anderen Top-Star, der Schwule so offensiv unterstützte. Bei den Popstars von heute gehört LGBT*-Support zum guten Ton. Madonna war die erste, die das kommerzielle Potential der Gay-Community nutzte. Doch Junior Vasquez verdarb es sich mit Madonna. Sie war 1996 der grösste weibliche Star auf dem Globus und bekannt als Diva, die austeilen kann. Trotzdem erlaubte sich Vasquez ein Scherz auf ihre Kosten. Eine Message von Madonna auf seinem Telefonbeantworter, in der sie kurzfristig ihren Auftritt an seiner Party absagt, verarbeitete er in dem Club-Hit «If Madonna Calls» – ohne sie um Erlaubnis zu fragen. Das fand Madonna gar nicht lustig und kündigte die Freundschaft. Noch 10 Jahre später lässt sich ihre Sprecherin zitieren: «I can assure you that Madonna will never work with Junior again.» Junior Vasquez schadete der «Bitch Track», wie er ihn nennt, nicht. Er ist noch heute aktiv als DJ und Remixer, auch wenn es Zeiten gab, in denen er wegen übermässigem Drogenkonsum unpässlich war. Es war Gianni Versace, der die beiden Bitches nochmal zu einer Zusammenarbeit überreden konnte. 2003 machte Junior für eine Versace-Show einen Remix der Single «Hollywood». Dass sie sich dabei persönlich begegnet sind, kann ausgeschlossen werden.
– Hello Junior, this ist Madonna. Are you there? Call me in Miami.
– If Madonna calls, tell her I’m not here.
Aus «If Madonna Calls», 1996, von Junior Vasquez
Der Aufstieg des Drag-Imperiums
Aus der New Yorker Clubkultur kam auch RuPaul, die Mutter des Drag. Geboren im November 1960 als RuPaul Andre Charles wuchs er in San Diego auf, zog mit 15 nach Atlanta um Theater zu studieren, und zeigte sich 1989 der breiten Öffentlichkeit erstmals als Dragqueen im Video zum The B-52’s-Hit «Love Shack». Doch RuPaul wollte mehr als einen Sekundenauftritt in einem MTV-Video und zog nach New York.
Im Big Apple eroberte RuPaul die Clubs im Sturm und wurde bald zur Queen of Manhattan. Sie trat im Lokalfernsehen auf und wirkte beim jährlichen Wigstock Drag Festival mit. 1993 gelang ihr überraschend ein Charts-Erfolg mit einer House-Ode in die damals angesagten Supermodels. Musste RuPaul sich im Hit «Supermodel (You Better Work)» auf das Namedropping beschränken, traten die genannten Supermodels Linda, Naomi, Christy und Cindy schon 1990 in George Michaels Video zu «Freedom! 90» auf. «Supermodel» war der Grundstein zu RuPauls Drag-Imperium. Der Hit verhalf ihr zu einer eigenen TV-Talkshow, Gastauftritten in Kinofilmen, weiteren Platten, einem Model-Vertrag mit MAC Cosmetics, einer Autobiografie und zu einem Parfüm namens Glamazone. 2008 startet die Show RuPaul’s Drag Race, die bis heute 13 Staffeln umfasst und immer noch ein Quotenrenner ist. Daraus entstanden mehrere Spin-offs (All Stars, Celebrity, UK, Down Under usw.). RuPaul hat heute auch eine Drag Convention und eine Serie auf Netflix. Die Dragqueen ist inzwischen eine so grosse Ikone, dass sie es sich nicht verkneife konnte, einen Ratgeber zu schreiben unter dem Titel «GuRu». Sie schrieb das Buch, um LGBTQ-Jugendliche zu erreichen, die aufgrund ihrer Sexualität und Geschlechtsidentität oft von ihren Eltern und Familien und der Gesellschaft geächtet und abgelehnt werden. RuPaul ist die Queen ihres Drag-Imperiums und wird ihre Macht nicht wieder abgeben. Ellen DeGeneres, Amerikas beliebteste Talkshow-Moderatorin und bekannteste Lesben, wollte Trump loswerden. Eher zum Spass kandidierte sie 2020 für das Präsidentenamt, mit RuPaul als Ihre Vizepräsidentin. Trump ist zwar weg, aber statt einer Lesbe und einer Dragqueen sitzt jetzt ein alter Mann im Weissen Haus. Vielleicht würde es klappen, wenn RuPaul bei den nächsten Wahlen selbst als US-Präsidentin kandieren würde. Ihr ist alles zuzutrauen!
RuPaul wird 1993 zum Superstar dank dem Hit «Supermodel (You Better Work)».
Im Untergrund gärt die Wut
Die Clubkultur der 90er gab sich unpolitisch. Sie frönte dem Eskapismus. Wie damals in den Disco-Jahren waren die Clubnächte bunt wie ein Regenbogen und dank der neuen Droge Ecstasy konnten sich die Raver unter dem Stoboskop-Licht in Trance tanzen. Als die Kids die bunt blinkenden Clubs verliessen, um im Tageslicht bei einer Loveparade zu tanzen, sah das aus wie eine Pride ohne politische Forderungen. Doch nicht alle lebten nach dem Motto der Loveparade «Friede, Freude Eierkuchen». Im Untergrund der Rock-Szene begann es zu gären. Die Wut kam zurück.
Mitte der 80er-Jahre entstand in Amerika die Queercore Bewegung, eine DIY-Kultur, die konsumorientierte Kultur verachtete, und sich als Opposition gegen die unterdrückenden religiösen Grundsätze und die politische Repression sah. Diese Bewegung beeinflusste auch die Musik in den 90er-Jahren. Feministische Frauen, lesbisch, bi und hetero, wurden zu Riot Girrrls, Mädchen mit lauten Gitarren und einem gegen das Patriarchat erhobenen Mittelfinger. «In her kiss, I taste the revolution!» sangen Bikini Kills in ihrer Girl-Punk-Power Hymne «Rebel Girl». Die aufständischen Mädchen von Bands wie Tribe 8, Bratmobile, Babes in Toyland oder L7 bezeichnet sich gerne als bi, meinten damit aber eigentlich nur, dass sie sich nicht definieren lassen. Tatsächlich lesbisch war Gretchen Phillips, die mit verschiedenen Bands (u.a. Two Nice Girls) und solo unterwegs war und bekannt für ihre humorvollen Texte. So machte sie sich im Song «I Spent My Last $10.00 (on Birth Control and Beer)» lustig über heterosexuelle Beziehungen.
Die männlichen Amis, die mit der Welt unzufrieden waren und ein wütendes Fuck You! ins Mikrofon schrien, fanden sich im Grunge. Auch in diesem Alternative-Rock-Genre gaben sich die Jungs gerne sexuell ambivalent, um zu provozieren. Grunge Legend Kurt Cobain von der Band Nirvana drückte es so aus: «Ich bin nicht schwul, obwohl ich es mir wünschte, nur um Homophobe zu verärgern.» Auch Brit-Popper wie Brett Anderson von Suede und Brian Molko von Placebo kokettierten mit der Bisexualität. Brett räumte 1994 zwar ein, dass er ein bisexueller Mann sei, aber bis jetzt noch keine homosexuellen Erfahrungen machte, und man darf vermuten, dass sich bei Brian die Bisexualität auf den exzessiven Gebrauch von Eyeliner beschränkte.
Es gab natürlich auch Musiker die sich nicht nur wünschten schwul zu sein, sondern es tatsächlich waren. Sie nannten sich Queer Punks. Bereits in der frühen Hardcore-Szene der 80er thematisierten Musiker wie Randy «Biscuit» Turner von den Big Boys, Gary Floyd von The Dicks oder Mike Bullshit (von SFA, später Go!) offen ihre Homosexualität und sprachen sich gegen Homophobie und für eine Pro-Gay-Haltung innerhalb der Punk-Szene aus.
Der Singer-Songwriter Jon Ginoli war frustriert, weil es so wenig offen schule Rockmusiker gab, und gründete 1991 deshalb mit dem Bassisten Chris Freeman in San Francisco die Band Pansy Division. Als eine der ersten offenen schwulen Rockband sangen sie hauptsächlich über LGBT-Themen, Sex und Beziehungen. Das allerdings immer mit viel Humor. Mit ihrem Fun-Punk und Power-Pop wurde Pansy Division zur kommerziell erfolgreichsten Band der Queercore-Bewegung. Internationale Berühmtheit erlangten sie, als sie 1994 mit Green Day tourten. Billie Joe Armstrong, der Sänger von Green Day bezeichnet sich ebenfalls als bisexuell. Auch wenn er nie eine Beziehung mit einem Mann hatte, so hatte er doch an Konzerten schon Männer geküsst. Die Mitglieder von Pansy Division wussten mit Männern mehr anzufangen, als sie nur zu küssen. Davon erzählen sie in Singles wie «Bill & Ted’s Homosexual Adventure» und «Big Buttom» von 1993, «Fuck Buddy» und «Jack U Off» von 1994 oder in romantischen Songs wie «He Could Be The One» und «Pretty Boy (What’s Your Name?)» von 1996.Pansy Division haben bis heute sieben Alben aufgenommen. 2008 wurde zudem ein Film über sie gedreht mit dem Titel «Life in a Gay Rock Band». Den Film gibt es in voller Länge auf YouTube zu sehen.
«I Really Wanted You» ist Pansy Divisions einziges Video mit grossem Budget. Sie sagen dazu: «Es kostete mehr als das gesamte Aufnahmebudget für das 1996er-Album «Wish I’d Taken Pictures!» Es wurde auch auf MTV gespielt … einmal!» Etwas schwul-punkiger ist ihr Video zu Homo Christmas, das aus Jugendschutz-Gründen nicht in eine Homepage eingebunden werden darf. Sie singen darin: «You’ll probably get sweaters, underwear and socks. But what you’d really like for Christmas is a nice hard cock»
Ani DiFranco lässt sich nicht gerne reinreden. Schon mit 15 zog sie von zuhause aus, weil sie unabhängig sein wollte. 1990, sie war gerade 20 geworden, veröffentlichte sie ihr erstes Album «Ani DiFranco». Ihr war künstlerische Freiheit und politischen Engagement immer wichtig. So unterschrieb sie nie einen Vertrag bei einer grossen Plattenfirma, sondern gründete ihr eigenes Label Righteous Babe Records, auf dem sie alle ihre bis jetzt 20 Alben herausbrachte. Als bisexuelle Frau engagierte sie sich für LGBT- und Frauenrechte. Sie schrieb Liebeslieder über Männer und Frauen. Im Song «In or Out» spricht sie über ihre eigene Sexualität: «Some days the line I walk turns out to be straight. Other days the line tends to deviate. I’ve got no criteria for sex or race. I just want to hear your voice. I just want to see your face».
Upps, ich habe ein Mädchen geküsst
2008 hatte die Pfarrerstochter Katy Perry ihren ersten Mega-Hit «I Kissed A Girl». Doch hast du gewusst, dass es schon 1995 einen Hit gab mit demselben Titel? Der wurde geschrieben und gesungen von Jill Sobule. Doch im Gegensatz zu Katy Perry küsste sie Mädchen nicht nur, um mal etwas Neues auszuprobieren und etwas «Wildes» zu machen, sondern weil es ihr als bisexuelle Frau ein Bedürfnis ist. In einem Interview lästerte sie: «Es hat mich schon ein bisschen genervt, als Katy sagte, sie sei im Traum auf die Idee für den Titel gekommen. In Wahrheit hat sie es mit einem Team professioneller Autoren geschrieben, und wurde von demselben Mann unter Vertrag genommen, der 1995 auch mit mir einen Vertrag abgeschlossen hatte. Ich möchte nicht bitter oder kleinlich klingen, aber ich bin doch etwas eifersüchtig und sauer, und muss es jetzt mal raus lassen: Fick dich Katy Perry, du verdammter Dummkopf, Titeldiebin, talentfreie Schlampe! – Gott, fühlte das sich gut an.»
Als LGBT-Mensch muss man manchmal fluchen, um sich die ständigen Ungerechtigkeiten, die man erlebt, etwas zu mildern. Die 90er-Jahre waren für queere Musiker*innen zwar nicht perfekt, aber es zeichnete sich eine Besserung ab. Sie haben gezeigt, dass es möglich ist, als offen homosexueller Mensch kommerziellen Erfolg zu haben, und nicht ausschliesslich auf ein Minderheiten-Publikum angewiesen zu sein. Zumindest wenn man nicht allzu deutlich von gleichgeschlechtlichem Sex sang. Es waren besonders Frauen, die es schafften, Homosexualität selbstverständlich zu zeigen, ohne dabei die Heteros vor den Kopf zu stossen. Da gab es noch viele weitere, wie die Lesbe Linda Perry, die mit ihrer Band 4 Non Blondes mit «What’s Up» einen Welthit landetet und heute eine einflussreiche Produzentin und Songwriterin ist. Oder die Transfrau Laura Jane Grace, die 1997 die Punkband Agains Me! gründetet, deren Leadsängerin und Songwriterin sie ist. 1998 gewann Dana International aus Israel als erste Transfrau den Eurovision Song Contest und Melissa Ferrick, eine Singer-Songwiterin, die sich als «gender-nonconforming queer» definiert, schenkte uns die Lesbenhymne «Freedom». Nicht zu vergessen Skin, die glatzköpfige Frontfrau der Band Skunk Anansie, die nie verheimlichte, dass sie auf Frauen steht. All’ diese wunderbaren Frauen ebneten den Weg für die künftigen queeren Musiker*innen, die mit der Jahrtausendwende so präsent sein werden, wie nie zuvor in der Geschichte das Pop. Mehr dazu im nächsten Teil von 100 Jahre Queer Pop, wenn es um die 00er- und 10er-Jahre geht.
DJ LUDWIGS PLAYLIST
100 Jahre QueerPop – die 90er Jahre
Mit den Sänger*innen und Songs aus dem Artikel und vielen mehr.