100 Jahre Queer Pop – Teil 6 – Die 00er-Jahre

In den 90er-Jahren ist der Damm gebrochen. Nachdem die Plattenindustrie sah, dass auch ein offen schwuler Musiker bzw. eine lesbische Musikerin im Mainstream Erfolg haben kann, hatte das Versteckspiel endlich ein Ende. So wurden die 00er-Jahren von LGBT-Stars geflutet. Besonders erfolgreich die Welle geritten haben Bands wie Scissor Sisters und Gossip. Doch nicht alle surften auf der Erfolgswelle.


New York City – Queer Capitol

New York war schon immer so etwas wie die queere Hauptstadt der Welt, schliesslich begann dort mit den Stonewall-Unruhen 1969 die moderne Gay-Pride-Bewegung. Auch musikalisch kamen immer wieder Acts aus NYC, von dort Geborenen oder Zugezogenen, die einen wichtigen Beitrag zur Queer-Kultur leisteten. Das war in den 00er-Jahren nicht anders. Am erfolgreichsten war damals die Band Scissor Sisters. Auch der selbstdeklarierte erste Gay-Popstar Ari Gold, der Homo-Rapper Cazwell, die Trans-Ikonen Amanda Lapore und Anohni, die Singer-Songwriters Jay Brannan und Scott Matthew und natürlich die Königin der Drag-Kultur RuPaul eroberten von New York aus die Welt.

Die Scissor Sisters wurden 2001 vom Sänger und Ex-Stripper Jake Shears und dem Multi-Instrumentalist Babydaddy gegründet, die sich in der New Yorker Schwulenszene kennenlernten. Die Band war komplett, als Ana Matronic als Co-Sängerin, Del Marquis als Gitarrist und zuletzt – als einziger Hetero-Mann – der Schlagzeuger Paddy Boom bei den Scissor Sisters einstiegen. Letzterer musste seiner Mutter erklären, dass er nicht in eine Gay-Band spiele. Es habe zwar schwule Mitglieder, aber das spiele keine Rolle, es geht nur um Musik und Performance. Ob das die Mutter beruhigte, ist nicht überliefert.

Den ersten Erfolg hatte die Band zwei Schweizern zu verdanken. Die Zürcher Oliver Stumm und Domie Clausen wanderten in den 90ern nach New York aus, wo jeder einzeln als DJs sehr erfolgreich war. Zusammen gründeten sie das DJ-Duo und Plattenlabel A Touch Of Class (ATOC). Mit «Flawless» für das Männertrio The Ones produzierten sie 2001 einen Club-Hit, der 2003 von George Michael für seinen Song «Flawless (Go to the City)» gesampelt wurde. Den Scissor Sisters verhalf ATOC mit der genialen Produktion des Pink Floyd Covers «Comfortably Numb» zu ihrem ersten Hit. Besonders in Grossbritannien erhielt der Song viel Aufmerksamkeit, auch von der grossen Plattenfirma Polydor, die Scissor Sisters gleich unter Vertrag nahm. Mit ihrem ersten Album landeten sie in der UK einen Verkaufshit. In ihre Heimat jedoch wurden sie verschmäht. Das änderte sich mit dem zweiten Album «Ta-Dah» und der Single «I Don’t Feel Like Dancin’», bei der Elton John als Co-Writer und Pianist dabei war. Die Single stürmte weltweit die Charts und machte die Band schlagartig berühmt. Ausverkaufte Konzerte (auch im Hallenstadion), Radio-Airplay, Auszeichnungen und Berichte in allen Magazinen. Was ihren Erfolg ausmachte, war ihr musikalischer Mix aus Disco, Glamrock und Alternative. Und was die Band so beliebt machte in der LGBT-Community war ihr unverkrampfter Umgang mit Sexualität und die offensive Queerness. Zwei weitere Alben folgten, doch sie blieben verkaufstechnisch unter den Erwartungen. Zwar haben sie sich nie offiziell getrennt, und sprachen nur von einer Pause, doch die dauert mittlerweile bereits 10 Jahre. Natürlich suchen alle Scherenschwestern solo den Erfolg, doch keinem/r ist der grosse Coup bisher gelungen. Ob es eine Wiedervereinigung geben wird?

Scissor Sisters – Any Which Way (2010)


Ari Gold – Gay Aktivist und Gay Pop star

Ari Gold wurde 1974 in der New Yorker Bronx geboren, wo er in einer orthodoxen jüdischen Familie aufwuchs. Schon als Kind begann er seine Karriere als Sänger. Ari Gold hatte alles, was es brauchte, um ein Popstar zu werden: er konnte grossartig singen, sah unverschämt gut aus, war sympathisch und ehrgeizig – und er kannte die richtigen Leute in der Musikindustrie. Sein Ziel war es, DER Gay-Popstar zu werden. Er schrieb 2006 in einer Kolumne im Advocate: «Als ich anfing, sagten mir alle, ich könne das nicht. Schwule, Heteros, Freunde, Familie, Profis aus der Musikbranche sagten mir alle: ‹Warum musst du Schwulsein zum Thema machen? Es sollte um die Musik gehen›. Aber es geht nicht nur um die Musik. All die grossartige Musik, die mir einfällt, wurde von politischen und sozialen Themen inspiriert. Die grossen Künstler schreiben, um die Welt zu verändern. Also machte ich mich daran, genau das zu tun.»

2000 veröffentlichte er sein Debütalbum mit expliziten schwulen Songtexten und gewann dafür den Outmusic Award. Einen Hit hatte er 2001 mit «I’m All About You», der es in die Top 20 der UK-Pop-Charts schaffte. Einen weiteren mit dem David Morales-Remix von «I’ll Be Here», den er zusammen mit Nashom Wooden von The Ones («Flawless») komponierte, und der in der ersten Gay-TV-Serie «Queer as Folk» von Russell T. Davis («It’s A Sin») gespielt wurde. Weitere Alben und Singles folgten, und er tourte durch die Clubs und Prides dieser Welt. Er war 2005 sogar für einen Auftritt in Bern! Doch den Sprung aus der LGBT-Bubble in den Mainstream schaffte er nie, denn er musste alles selbst machen auf seinem eigenen Label Gold 18 Records. Kein grosses Plattenlabel wollte ihn unter Vertrag nehmen, auch die nicht, die sich als Gay-Labels positionieren. Für die war er zu sehr Nische und für Indie-Labels zu sehr Mainstream. Seine frustrierenden Erfahrungen verarbeitet er in einem autobiografischen Theaterstück mit dem Titel «The Making of a Gay Pop Star» und organisierte in New York sogar einen Talentwettbewerb um den «Next Gay Popstar» zu suchen. Er suchte einen Nachfolger, weil er wusste, dass seine Zeit abläuft. Ari Gold hatte Leukämie. Nach einer Knochenmarktransplantation zog er sich vom anstrengenden Leben als Popstar zurück. Stattdessen nahm er jüdische Kinderlieder auf und hielt Vorträge bei liberalen jüdischen Einrichtungen, die sich mit der Frage nach orthodoxem Judentum und Homosexualität beschäftigten. Ari Gold war zeitlebens ein Gay-Aktivist und Wegbereiter für die heutigen Gay Popstars wie Sam Smith und Troye Sivan. Ein paar Tage nach seinem 47. Geburtstag verstarb Ari Gold 2021. Seine enge und langjährige Freundin RuPaul verkündete den Tod des Sängers auf Twitter.

Ari Gold «Love Will Take Over» von 2006 im Radio-Remix von JKriv (2011). Das Video wurde während seiner Welt-Tournee gedreht. Damals machte er auch Halt in Bern! Am 9. April 2005 trat er an der Bubennacht im Du Theater auf. Wer genau hinschaut, wird im Video sogar das Berner Münster sehen.

 


Mit dem «Shortbus» zum Erfolg

Das Erste, was die ganze Welt von Jay Brannan zu sehen bekam, war sein erigierter Penis! Der Texaner spielte nämlich im Film «Shortbus» von John Cameron Mitchell mit, der 2006 die Filmszene er- und aufregte. Es war der erste Spielfilm der echten Gay-Sex zeigt, etwas, das heute nicht mehr möglich wäre. Tatsächlich wurde der Film erst kürzlich von Amazon Prime verbannt. «Shortbus» erzählte humorvoll und klug von einer Gruppe queerer Menschen in New York auf der Suche nach gutem Sex und erfüllender Liebe. Doch nicht der Schwanz von Jay Brannan blieb in Erinnerung, was hängen blieb, war, wie er sich selbst auf der Gitarre begleitet und seinen Song «Soda Shop» singt.

Jay Brannan (*1982) wuchs in Houston, Texas auf und zog mit 20 nach L.A., weil er Filmschauspieler werden wollte. Doch statt zum Film fand er dort zu seiner zweiten Leidenschaft, der Musik, und begann eigene Songs zu schreiben. Ein Freund machte ihn auf die Casting-Anzeige für den Film «Shortbus» aufmerksam. Er reichte ein Tape ein und bekam die Rolle. Also zog er nach New York und blieb. Der Film verhalf ihm zum Durchbrauch als Singer-Songwriter. Mit seinen selbstgemachten Videos, die er oft nackt auf der Toilette aufnahm – wegen der Wahrhaftigkeit und der Akustik – machten ihn zu einem der ersten YouTube-Stars. Doch einen Plattenvertrag wollte er nicht. Lieber blieb er unabhängig und bereist mit seiner Gitarre die Welt. Seine einfachen Folksongs zeichnen sich durch seine Texte aus. In «Ever After Happily» mokiert er sich darüber, dass uns das Märchen «Boy meets girl and they wed with roses» erzählt wird, doch diese Lüge pisst ihn an, denn «boy meets boy and boy runs away; or girl meets girl and she’s afraid to stay».


Die Melancholie von Scott und Anohni

Der Film «Shortbus» machte auch Scott Matthew bekannt. Der Australier lebt seit 1997 in New York und konnte dem Soundtrack fünf Songs beisteuern. Der bärtige Barde fällt auf mit seiner warmen, weichen und androgynen Stimme und seinen melancholischen Liedern. Seine Alben werden von Musikkritiker*innen gelobt und von seinen Fans geliebt. Scott Matthew konnte sich als Musiker etablieren, ohne auf die Gay-Karte zu setzen. Seine «Sad Songs» berühren einen unabhängig der sexuellen Orientierung, denn Traurigkeit kennt keine Grenzen. So kann er auch regelmässig Konzerte auf der ganzen Welt spielen und mit seinem Publikum weinen über verlorene Liebe und das allgemeine Unglück dieser Erde. Doch seine Lieder werden immer fröhlicher. Es scheint, dass dieser Mann seinen Weg gefunden hat und glücklich ist.

Eine ähnliche Melancholie wie Scott Matthew hat auch Anohni. Geboren 1971 als Antony Hegarty in England, liebte der Teenager britischen Synthiepop, Marc Almond und Boy George. 1990 zog sie nach New York. Nach einer langen Suche nach Identität und musikalischem Ausdruck entstand 2000 das Bandprojekt Antony and the Johnsons. Der Bandname bezog sich auf die New Yorker Transgender-Aktivistin Marsha P. Johnson. Das Debüt Album fand zwar noch kein grosse Publikum, doch der namhafte Produzent Hal Willner (Marianne Faithfull, Lou Reed, Laurie Anderson) wurde aufmerksam und rekrutierte Hegarty umgehend für sein Projekt «The Raven», ein Album von Lou Reed mit Texten von Edgar Allen Poe. So wurde Antony and the Johnsons einem breiteren Publikum bekannt. Das zweite Album «I Am a Bird Now» (2005) wurde von den Kritikern hochgelobt und mit dem britischen Mercury Music Prize ausgezeichnet. Ihr kammermusikalischer Pop, ihre ungewöhnliche, herzerweichende Stimme, aber auch ihr scheues und zurückhaltendes Wesen waren neu und aussergewöhnlich. So anders als alles, was man bisher zu hören und sehen bekam. Ihre Musikerkolleg*innen rissen sich um sie für eine Zusammenarbeit. So konnte sie Duette mit ihren Jugendidolen Marc Almond und Boy George aufnehmen und so unterschiedlichen Sänger*innen wie Björk, Herbert Grönemeyer und Rufus Wainwright. Spannend an Anohnis Karriere ist, dass sie uns an ihrer Transformation teilhaben liess. Sang sie 2005 noch «One day I’ll grow up, I’ll be a beautiful woman, but for today I am a child, for today I am a boy», fand 10 Jahre später der öffentliche Namenswechsel statt. Im Februar 2015 kündigt sie auf Facebook an, dass sie jetzt unter dem Namen Anohni auftritt, den sie als Privatperson schon seit Jahren braucht, und gleichzeitig stellte sie ihr neues Album «Hopelessness» vor. Anohnis Kreativität findet auch bildnerisch Ausdruck. Ihre Werke wurden 2016 erstmals in der Kunsthalle Bielefeld ausgestellt und 2018 in der Nikolaj Kunsthal in Kopenhagen. Wie in ihren Liedern beschäftig sie sich auch in ihren Bildern und Skulpturen mit Feminismus, Gesellschaft und Umwelt. Anohni ist eine Künstlerin, die sich stets weiterentwickelt und die uns noch lange begleiten wird. Das ist nicht kurzlebiger Pop, sondern Kunst, die in die Zukunft weist, in der sich die festgefahrenen Geschlechterrollen endlich lösen können.


Homo Rap

Aus der New Yorker Subkultur kommt auch der Homo-Rapper Cazwell. Wie im Hip-Hop üblich zeigt er sich gerne protzig und sexuell potent. Doch statt von üppigen Frauen, lässt er sich in seinen Videos von muskulösen Männern und Dragqueens umtanzen. Sein erster Release war der Song «The Sex That I Need» 2003. Es folgten die Single «All Over Your Face» und das Album «Get Into It» (2006). Das Video zur Single wurde allerdings damals vom neu gegründete TV-Sender Logo, der sich an ein LGBT-Publikum richtet, nicht gespielt, wegen dem expliziten Text und den sexuellen Bildern.

Wie die meisten Hip-Hop-Künstler machte auch Cazwell viele Collabs. Mit dem Sänger, selbsternannten Promi und Möchte-gerne-Fashion-Influencer Johnny MakeUp nahm er die Single «I Seen Beyoncé at Burger King» (2008) auf. Die Trans-Ikone Amanda Lepore taucht gefühlt in jedem seiner Videos auf, mit Peaches hat er den den Song «Unzip Me» (2011) aufgenommen und mit dem ehemaligen Porno-Star Colton Ford die Single «That’s Me» (2006).

Cazwell war nicht der einzige queere Rapper. Es gab einige davon in den 00er-Jahren, doch es waren fast ausschliesslich weisse Männer. Die afroamerikanische Hip Hop Kultur war nach wie vor sehr homophob. Diese Barriere konnte erst 2018 von Lil Nas X durchbrochen werden. Zu den Homo-Hip Hop Pionieren zählten Captain Magik, der mit 2007 mit «Young, Gay & Proud» für kurze Zeit bekannt wurde, Johnny Dangerous aus Chicago, der 2003 sein Album «Dangerous Liaisons» herausbrachte und 2008 einen kleinen Hit hatte mit «Dirty Is The New Black», und QBoy aus Grossbritannien, der heute immer noch aktiv ist. Hinter dem Künstlernamen QBoy steckt Marcos Brito. Als UK’s erster Queer-Hip-Hop-Künstler hat er seit 2004 zahlreiche Songs veröffentlicht und dazu beigetragen, den Weg für Vielfalt und Inklusion innerhalb der LGBTQ-Community und des Hip-Hop zu weisen. QBoy schrieb auch für Gay-Zeitschriften über Queer Hip Hop und präsentierte 2007 eine TV-Dokumentation, in der er über seine Erfahrungen mit homophobem Mobbing an seiner Schule sprach. Er zeigte auf, was die jungen schwulen Teenager heute erleben und demonstrierte den Mangel an Unterstützung, unterdem sie leiden. Übrigens kam wie Ari Gold auch QBoy für einen Auftritt nach Bern an die legendäre Bubennacht im Du Theatre.

Melange Lavonne war die erste offen lesbische Rapperin und sie sprach Themen direkt an. Die Kalifornierin behandelte auf ihrem ersten (und einzigen) Album «The Movement» von 2008 gleich alle gängigen Themen, die einen politischen LGBT-Menschen bewegen: Gewalt gegen Schwule, häusliche Gewalt, gleichgeschlechtliche Ehe, Rassismus, Homophobie, Magersucht und Aids. Ihr Song «Gay Bash», in dem sie über einen fiktiven Freund singt, der aus Schwulenhass umgebracht wurde, landete auf der «Click List» bei Logo-TV und wurde auch auf der Lesben-Website AfterEllen.com promotet. Im Song «I’ve Got U» singt sie über Homo-Eltern und erzählte in einem Interview: «Ich möchte heiraten und Kinder haben. Die ‹Gay Parents› die ich getroffen habe sind einfach unglaublich, so liebevoll. Die Welt muss das sehen!». Mit den Songs von diesem Album war sie auch Teil der HomoRevolution, der ersten LBGT Hip-Hop-Tour in den USA. Doch danach wurde es ruhig um sie. Inzwischen hat sie ihren Traum erfüllt, sie ist heute verheiratet und hat zwei Kinder.


Castingshow Stars

Mit der Jahrtausendwende begann der Erfolg der Castingshows im TV. Unter den Kandidatinnen und Kandidaten waren immer wieder mal mehr, mal weniger offene Homosexuelle dabei. Der erste Schwule, der eine der ersten Castingshows gewann, war Will Young. Er holte sich 2002 den Sieg bei Pop Idol im britischen Fernsehen. Das Outing als Schwuler wagte er allerdings erst nach dem Sieg. Geschadet hat es ihm nicht, weder das Outing noch das Stigma Castingshow. Denn den wenigsten Castingshow-Sieger ist ein nachhaltiger Erfolg in der Musikbranche vergönnt. Als eine dieser raren Ausnahmen konnte Will Young seine Karriere bis heute erfolgreich aufrechterhalten. In seiner Heimat ist er ein Star, seine Alben landen regelmässig in den Charts und er ist so etwas wie ein Liebling der Nation, ein sympathischer Vorzeigeschwuler.

Im selben Jahr, in dem Will Young siegte, suchte Deutschland den Superstar. Bei der 1. Staffel dieser Show fiel ein junger Mann besonders auf. Allerdings nicht wegen seinem (nicht vorhandenen) Gesangstalent, sondern wegen seiner schrillen Art. Daniel Küblböck spaltete das Publikum. Für die Produzenten der Show ein Geschenk, denn nichts erhöht die Zuschauerzahlen mehr als ein «schräger Vogel». Aus der Teilnahme der Show konnte Küblböck tatsächlich Profit schlagen. Er tauchte seitdem regelmässig in der Boulevard-Presse auf, in diversen Reality-Shows und manchmal auch in den Charts und auf Konzertbühnen und sogar in der Buchhandlung. Doch für das Publikum und die Presse war er stehts nur der Clown, den keiner ernst nahm. Darunter muss er gelitten haben. Sein Leben nahm ein unglückliches Ende. Im September 2018 ging er auf einem Kreuzfahrtschifft über Bord. Trotz Suchaktion wurde er nicht gefunden und 3 Jahre später für tot erklärt. War es Selbstmord? Was man weiss, ist, dass sich Daniel Küblbock vor seinem Tod mit seiner Geschlechtsidentität auseinandersetzte. Auf den Sozialen Medien sprach er davon, dass er künftig als Lana Kaiser leben wolle. Sein Vater erzählte, dass er vor der Reise bei seinem Sohn eine plötzliche Wesensveränderung und psychische Probleme festgestellt hatte. Laut Aussagen eines Passagiers, der in einer benachbarten Kabine untergebracht war, benahm sich Küblböck auffällig und führte häufig Selbstgespräche. Daniel Küblböck ist ein klassisches Beispiel dafür, dass wer in der Öffentlichkeit lebt, von dieser auch vernichtet werden kann.

Elli Erl machte dieses Spiel nicht mit, sie wusste sich besser zu schützen. Zwar ging die offen lesbische Musikerin 2004 als Siegerin aus der 2. DSDS-Staffel hervor, doch nach dem der Vertrag mit den Produzenten ausgelaufen war, machte sie ihr eigenes Ding. Es gab ein paar Alben, eine Tournee und bescheidenen Erfolg. Zudem schrieb sie ein Buch über ihre Casting-Erfahrungen. Hauptberuflich arbeitet Elli heute als Lehrerin für Musik und Sport in Düsseldorf, macht Musik nur noch als Hobby und hat 2019 ihre Lebensgefährtin geheiratet. Elli Erl hat ihr Glück gefunden, abseits der Boulevard Presse.

DSDS brachte noch weiter Gay-Castingstars heraus. Mark Medlock sparte nicht mit dramatischen Details aus seinem Leben während der Show. Dank diesen intimen Einblicken, seiner entspannten, coolen Art und seiner warmen Stimme, gewann er 2008 die 4. Staffel und konnte als Protegé von Dieter Bohlen eine beachtliche Karriere machen. Doch inzwischen hat er sich zurückgezogen. Daniel Schuhmacher, Gewinner der 6. Staffel (2009), hielt es wie Will Young und machte seine sexuelle Orientierung an der Show nicht zum Thema. Seine aussergewöhnliche Stimme wurde durchwegs gelobt, doch die Presse bezeichnete ihn als Softie und Milchbubi und Juror-Chef Dieter Bohlen zweifelte daran, dass Schuhmacher die notwendigen Fähigkeiten besässe, um langfristig erfolgreich sein zu können. Nach ein paar Hits im Aufwind des DSDS-Sieges wurde der Erfolg tatsächlich kleiner. Aber Daniel Schuhmacher gab nicht auf und blieb dran und weigerte sich an irgendwelchen Reality-Shows mitzumachen. Er definiert sich als Musiker und hält beharrlich daran fest. 2014 machte er dann sein öffentliches Coming-out und kam so wieder in die Schlagzeilen – und in die Charts! Als engagierter LGBT-Aktivist kommen diese Themen auch in seinen Song zu Geltung. Er scheint den Castingshow-Fluch überstanden zu haben.

Noch zu erwähnen sind Lucy Diakovska, die anfangs der 00er-Jahre, und Adam Lambert, der zum Ende dieses Jahrzehnts, dank Castingshows berühmt wurden. Die Bulgarin Lucy Diakovska wurde durch «Popstars» 2000 ein Mitglied der sehr erfolgreichen Girlgroup No Angles. Lucy hat aus ihrer Homosexualität kein Hehl gemacht und sich stets für die LGBTQIA-Community eingesetzt. Zu Beginn der Karriere von No Angels, sprach Lucy zwar offen über ihr Lesbisch-Sein, doch gezeigt wurde es in den Videos der Band nicht. Erst 2021, beim Remake ihrer Single «Still in Love with you» durfte sie im Video lasziv mit einer Frau tanzen. Bei Adam Lambert war ein Outing nicht nötig. Dass dieser Mann schwul war, war offensichtlich, als er 2009 bei American Idol mitmachte und es bis in das Finale schaffte. Er wurde dann zwar nur Zweiter, doch dank seiner grossartigen Stimme schaffte er eine Karriere im Pop-Biz. Er konnte sogar als Freddie Mercury Ersatz mit der Band Queen auf Tournee und im Queen-Biopic «Bohemian Rhapsody» hatte er einen Gastauftritt als Trucker und Liebhaber von Freddie Mercury.


Spätes Outing bei globalen Popstars

«Ich habe versucht, wie Grace Kelly zu sein. Aber all ihre Looks waren zu traurig. Also versuchte ich es mit ein bisschen Freddie». Dass so ein Text von einem schwulen Mann sein muss, ist wohl klar, doch als MIKA mit seinem Song «Grace Kelly» 2007 die Charts stürmte, zierte er sich etwas, eindeutig Stellung zu beziehen zu seiner Sexualität. Auch wenn die Musikindustrie und das Publikum in den 00er-Jahren queeren Künstler*innen gegenüber offener wurden, war es doch immer noch ein Risiko. Positioniert man sich als Gay-Artist, riskiert man damit das Mainstream- (sprich heterosexuelle) Publikum auszuschliessen. Das jedenfalls war die Befürchtung von MIKA. Doch sobald sich seine Karriere konsolidiert hatte, war diese Angst weg. Inzwischen verwendet er auch in seinen Songs eindeutige Pronomen und setzt sich für LGBTIAQ-Anliegen ein. Doch über sein Privatleben äussert er sich nach wie vor nicht. Was sein gutes Recht ist.

MIKA – Grace Kelly (2007)

Auch Tiziano Ferro hatte lange ein Geheimnis um seine Homosexualität gemacht. Was, wenn man in dem Land aufwächst, in dem die katholische Kirche zuhause ist, nicht weiter verwundert. 2001 hatte er in Italien seinen ersten Hit («Perdono») und bald darauf auch ausserhalb seiner Heimat mit dem Album «111» von 2003. Noch ungeoutet nahm er 2006 sogar am weihnächtlichen Konzert im Vatikan teil. Tiziano Ferro wurde zum Superstar, seine Alben landeten alle auf Platz 1. Doch das Versteckspiel um seine Homosexualität machte ihn depressiv und alkoholabhängig. Nur ihn Ländern, in denen er nicht bekannt war, wie beispielsweise in Amerika, konnte er offen leben. In ihm gärte es und die Gefühle brachen plötzlich aus, als er sich 2010 in einem Interview mit der italienischen Ausgabe von Vanity Fair als schwul outete. Vielleicht nicht so eruptiv, wie dargestellt, sondern durchaus berechnet, denn die Zeit war reif. Er veröffentlichte nämlich gleichzeitig auch ein Buch mit dem Titel «Dreissig Jahre und ein Gespräch mit meinem Vater», dass aus Tagebuchaufzeichnungen des Sängers von 1995 bis 2010 entstanden ist und sein schwieriges Outing erklärte. Er war und er blieb ein Liebling der Italiener*innen. Sein fünftes Album «L’amore è una cosa semplice», das kurz darauf veröffentlicht wurde, war ein Hit und verkaufte sich ein halbe Million Mal. Inzwischen ist Tiziano mit seinem US-amerikanische Manager Victor Allen verheiratet, lebt mit ihm in Los Angeles und dank einer Leihmutterschaft wurden sie mit zwei Kindern zu einer Regenbogenfamilie.

Genau gleich lebt auch Ricky Martin heute. Verheiratet mit einem Mann und Vater von Zwillingen. Doch bei ihm dauerte es noch viel länger, bis er 2010 öffentlich zu seiner Homosexualität stehen und zu sich selbst sagen konnte: «Ricky, you are a very fortunate homosexual man. You are gay». Das sein persönliches Umfeld zwar wusste, dass er schwul war, der Öffentlichkeit aber verschwiegen wurde, hat mit seinem Image zu tun. Schon als Teenager in den 80er-Jahren war er Mitglieder der mexikanischen Boyband Menudo und dort der Schwarm der Mädchen. In den 90er-Jahren wurde er zum Superstar in Lateinamerika. Er verkörperte den ultra-männlichen Latin Lover, den Frauenschwarm. Um den internationalen Markt zu erobern, zog er 1995 nach Los Angeles. Mit seinem Song «La Copa De La Vida» für die Fussballweltmeisterschaft 1998 wurde er weltweit bekannt und mit «Livin’ la vida loca» gelang ihm 1999 ein Mega-Hit. In den 00er-Jahren zählte Ricky Martin zu den grössten Stars der westlichen Welt. Doch die Schere zwischen öffentlichem Image und persönlichem Sein wurde immer grösser und unerträglicher für ihn. Er nahm mit seinem Coming-out in Kauf, Fans zu verlieren, doch die Lüge wollte er nicht länger aufrechterhalten. Tatsächlich sind seitdem die Plattenverkäufe zurückgegangen, was allerding auch damit zu tun haben könnte, dass er den Zenit als Musiker überschritten hat. Er versucht sich jetzt öfters als Schauspier. In der American Crime Story (2018) verkörperte er Antonio D’Amico, den Lebensgefährten von Gianni Versace.

Der Australier Darren Hayes wurde Ende der 90er-Jahre zum Star mit dem Duo Savage Garden. Sie hatten globale Hits mit «To the Moon and Back» und «Truly Madly Deeply». Damals war Hayes noch mit seiner Jugendfreundin verheiratet, eine Ehe, die bald in die Brüche ging. Auch mit seinem Duopartner Daniel Jones war die Beziehung eher toxisch, was zur Auflösung der Band führte. Auf dem Höhepunkt der Karriere outet Darren Hayes sich in seinem privaten Umfeld und gegenüber der Plattenfirma als schwul. 2005 heiratet er unter Ausschluss der Öffentlichkeit in einer privaten Trauung seinen Boyfriend Richard Cullen. In seinem Liebesleben lief es gut, doch beruflich nicht so. An den grossen Erfolg, den er mit Savage Garden hatte, konnte er nicht anknüpfen. Zudem spekulierte die Presse über seine Sexualität, die er immer noch geheim hielt. Erst ein Tag vor der Hochzeit auf dem Standesamt im Jahr 2013, als im Amerika die Same-Sex Marriage legalisiert wurde, machte er seine Homosexualität öffentlich. In einem Interview mit Attitude aus dem Jahr 2017 kommentierte Hayes: «Ich bereue mein Coming-out keine Sekunde. Doch es gab eine Art ungewollt bevormundenden Blick auf mich. Ich war kein Sexobjekt mehr, sondern eher jemand, den man zu Mama mit nach Hause nehmen könnte […] Ich war plötzlich ein schwuler Onkel. Das war frustrierend. Meine Sexualität wurde als Schlagwort missbraucht, und wenn man darüber nachdenkt, ist das verrückt. Niemand sagt ‘die offen heterosexuelle Sängerin Adele’». Als es mit dem Plattenverkaufen nicht mehr gut lief, versuchte er es als Stand-up-Comedian. Doch 2022 wurde es Zeit für ein Comeback als Sänger. Um es allen zu zeigen, taufte er sein neues Album gleich «Homosexual» und räkelt sich auf dem Cover in Dandy-Pose. Mit der Weisheit eines stolzen 50-jährigen schwulen Mannes schaut er im Album auf seine Jugend zurück, in einer Welt, in der Schwulsein auf Ablehnung und Verurteilung stiess. «Mein Ziel war es, mein Glück und meine Identität zurückzugewinnen».


Pioniere und Wegweiser

Man sollte meinen, wenn man in einer Musikerfamilie aufwächst, die politisch links orientiert ist, ist es einfacher schwul zu sein. Nicht unbedingt! Die Eltern von Rufus Wainwright, die Folkmusiker Loudon Wainwright III und Kate McGarrigle waren etwas verwundert, um nicht zu sagen beleidigt, als ihr Sohn die Liebe zur elitären Oper und zur kitschigen Judy Garland und zur dramatisch Edith Piaf entdeckte. Doch Rufus liess sich nicht beirren, und seine Eltern waren tolerant genug, ihren Sohn den eigenen Weg gehen zu lassen. Bald wurde erkannt, was für ein grosses Talent er hat. Bereits auf seinen beiden ersten Alben (1998 und 2001), wurde klar, dass hier ein Schwuler über seine Lebenswelt singt und dass er musikalisch einiges zu bieten hat. Die Kritiker waren voll des Lobes. Der Durchbruch beim Publikum gelang ihm mit den Alben «Want One» (2003) und «Want Two» (2004). Darauf Songs wie «Gay Messiah» in dem er christliche und schwule Ikonografien vermischt. Er sagte dazu: «Weil Homosexuelle aus der religiösen Literatur ausgeschlossen werden, habe ich beschlossen, einen Song darüber zu schreiben, dass der nächste Messias ein Homosexueller sein würde. Die Bibel braucht ein schwules Evangelium.» Am erfolgreichsten und mit Gold ausgezeichnet wurde sein Album «Release The Stars» von 2007. Doch ein Popstar ist er nie geworden. Dazu ist er zu sehr Kunst, zu wenig Kommerz. Doch im Kulturbetrieb hat er seinen Platz gefunden. Er hat inzwischen zwei Opern geschrieben, das legendäre Judy Garland Konzert von 1961 in der Carnagie Hall von der Setlist bis in kleine Einzelheiten 2006 komplett nachgesungen, und er ist mit dem Berliner Theaterproduzenten Jörn Weisbrodt verheiratet. Auch sie haben ein Kind. Übrigens, die Mutter ihrer Tochter ist Lorca Cohen, die Tochter der kanadischen Folklegende Leonard Cohen.

Rufus Wainwright – Going To A Town (2007)

«Gay Church Folk Musik» nennt der Kanadier Joel Gibb seine Musik. Seit 2001 schart er unter dem Namen The Hidden Cameras Künstler*innen aus den verschiedensten Bereichen um sich, um mit ihnen seine Songs auf Platte und auf die Bühne zu bringen. Der Bandname «die Versteckten Kameras» ist bewusst gewählt, zeigt Joel Gibb in seinen Songtexten queere Lebenswelten, ohne diese zu beschönigen. «Ich möchte meine Sexualität weder verstecken noch ausschlachten», sagt er. In den Liedern singt er schon mal übers banale Pinkeln, Bremsspuren in Männerunterhosen und Vaseline. «Nicht um zu provozieren», betont er, «sondern um deutlich zu machen, dass es etwas Alltägliches ist». Neben den Platten sind es vor allem die Konzerte der Hidden Cameras, die sie so populär machten. Mindesten sieben Leute stehen immer auf der Bühne, es können aber auch mal zwölf sein! Joel findet, dass ihr Indie-Publikum oft etwas gehemmt ist. «Die Leute stehen immer nur herum, rauchen Zigaretten und lästern über die paar Leute, die versuchen zu tanzen.» Um das zu verhindern, holt Gibb oft strippende Gogo-Tänzer*innen auf die Bühne, die das Publikum zum Mitsingen und Mittanzen animieren.

The Hidden Cameras – I Believe in the Good of Life (2004)

Bei den ersten drei Alben der Hidden Cameras war auch Owen Pallett dabei. Der 1979 geborene Kanadier ist bekannt als Violinist und für seine Streicherarrangements. Seine Arrangements für Joel Gibbs Songs waren so auffallend schön, dass bald weitere Musiker*innen den jungen Mann engagieren wollten. Er arbeitete mit Arcade Fire zusammen und ging mit ihnen auf Konzerttournee. Er veredelte mit seiner Violine Songs für die Pet Shop Boys, Duran Duran, R.E.M., Robbie Williams, Taylor Swift, Ed Sheeran und Björk, um nur die bekanntesten zu nennen. Er komponierte auch Filmmusik («Her», «The Wait») und machte Solo-Alben. In den 00er-Jahren noch unter dem Namen Final Fantasy, seit 2010 unter seinem eigenen Namen. Dass seine Lyrics aus einer schwulen Perspektive geschrieben wurde, ist hörbar, doch Owen sagt, dass er nicht darüber nachdenke, welche Wirkung seine schwule Sprache auf die Ohren der Zuhörenden haben werde. Was damit zu tun hat, dass er auch in seinem täglichen Leben nicht darüber nachzudenkt. «Darüber zu sprechen, dass ein Mann attraktiv ist, ist nichts, worüber ich mich in irgendeiner Situation zensieren würde, selbst wenn es vor meiner Grossmutter ist. Aber es ist interessant, wenn der Song geschrieben und aufgenommen ist, denke ich schon manchmal: ‹Whoa! This is a pretty gay thing!›».

Wie Joel Gibb und Owen Pallett ist auch Stephin Merritt aus Boston ein Multi-Instrumentalist und ein begnadeter Songwriter. Er gründete mehrere Bands, wie The Magnetic Fields, The Gothic Archies und Future Bible Heroes, wobei erstere am erfolgreichsten wurde. The Magnetic Fields entstand schon 1991. Seither haben sie 12 Alben veröffentlicht. Bemerkenswert ist ihr Konzeptalbum «69 Love Songs», das, wie es der Titel sagt, in neunundsechzig (!) Liedern die verschiedenen Formen der Liebe besingt.

«‹I’m the only gay in the village!› wie in der Comedy ‹Little Britain›? Das bin ich!» sagte Jónsi Birgisson in einem Interview. Das Kaff ist ein Pfarrdorf am Stadtrand von Reykjavík und als einziger Schwuler im Dorf fühlte sich Jónsi. An der Wand in seinem Kinderzimmer hing nur ein Poster, das von Andy Taylor, dem gutaussehenden Gitarristen von Duran Duran. Bis zu seinem 21. Lebensjahr traf Jónsi keinen anderen schwulen Menschen. Rückblickend meint er: «Das hat mir sehr geholfen, dahin zu kommen, wo ich heute bin. Ich tauchte in Musik und Kunst ein und malte Bilder und zeichnete, nur damit ich mich von dem Gedanken abwenden konnte, mich von Jungen angezogen zu fühlen. Und dann wurde ich 21 und traf Leute aus der Stadt und mein Leben änderte sich.» 1994 gründete er in Reykjavík die Band Sigur Rós, deren Sounds zwischen Post-Punk, Avantgarde und Ambiente pendelt. Auch Jónsi Birgisson ist einer, der verschiedene Instrumente spielt. Sein liebstes ist die Gitarre, doch diese spielt er oft nicht mit seinen Fingern, sondern mit einem Cellobogen. Ebenfalls aussergewöhnlich ist seine engelsgleiche Falsettstimme. Bereits mit ihrem zweiten Album «Ágætis byrjun (A Good Beginning)» von 1999 erhielten Sigur Rós internationale Anerkennung. Der Ruf des Albums verbreitete sich durch Mund-zu-Mund-Propaganda und wurde von Kritiker*innen weltweit überschwänglich gelobt. 2013 ist ihr bisher letztes Album erschienen. Auf einer Tournee durch Amerika im Jahr 2003 lernte er Alex Somers kennen. Sie wurden ein Paar und Alex kam mit Jónsi nach Island, um in Reykjavík Musik zu studieren. Zusammen hatte sie auch ein Projekt namens Jónsi & Alex. Zwei Alben machten sie zusammen, und beide reden gerne missionarisch über die Vorteile von Rohkost – sie haben sogar ein Kochbuch veröffentlicht. Doch 2019, nach 16 Jahren, gaben sie bekannt, dass sie sich getrennt haben. 2010 veröffentlichte Jónsi sein erstes Solo-Album («Go») und 2021 sein drittes («Obsidian»). Wie schon bei Sigur Rós ist auch sein Solo-Werk sphärisch und mysteriös. Dass diese Musik von einer Insel stammt, dessen Bewohner*innen an Naturgeister wie Elfen und Trolle glauben, ist durchaus zu hören.


Power Lesben aus Amerika

Als ich 2006 zum ersten Mal ein Album vom Trio Gossip hörte, hat mich das umgehauen! Ihre Mischung aus Punk und Disco und die Stimme der Sängerin waren schlicht umwerfend, insbesondere der Song «Standing in the Way of Control». Das ist ein Song, der überdauern wird. Das Lied wurde von Leadsängerin Beth Ditto als Reaktion auf das «Federal Marriage Amendment» geschrieben, das die gleichgeschlechtliche Ehe in den Vereinigten Staaten verfassungsrechtlich verbieten wollte – was dann aber nicht passierte. «Ich habe den Refrain geschrieben, um die Leute zu ermutigen, nicht aufzugeben. Es ist eine beängstigende Zeit für die Bürgerrechte, aber ich glaube wirklich, dass der einzige Weg zu überleben darin besteht, zusammenzuhalten und weiterzukämpfen». Mit diesem Album, das seit der Gründung der Band 1999 bereits ihre dritte Veröffentlichung war, schafften sie den Sprung vom Untergrund in den Mainstream. Die Band wurden gehypt, gelobt und mit Gold ausgezeichnet. Beth Ditto wurde zu einer neue Lesben-Ikone und zum Aushängeschild für die Body-Positivity-Bewegung. Auch die Modebranche riss sich um sie, allen voran Jean-Paul Gaultier, der sie auf den Laufsteg schickte und ihr half, eine eigene Kollektion zu entwerfen. Für ihr nächstes Album «Music for Men» (2009) konnten sie den Erfolgsproduzente Rick Rubin verpflichten. Das Album wurde in Europa gefeiert und zum Erfolg in den Charts – in ihrer Heimat USA kam es weniger gut an. Besonders erfolgreich war die Single «Heavy Cross» in Deutschland, wo sie für den Verkauf von über 450’000 Exemplaren mit dreifachem Gold ausgezeichnet wurde. Die Single verbrachte ganze 97 Wochen in den deutschen Single-Charts, ohne jemals Platz 1 zu erreichen.

Ich habe Gossip zwei Mal live erlebt. Einmal 2006 im Mascott in Zürich, also sie noch Underground waren und auf Tournee mit «Standing in the Way of Control». In diesem kleinen Klub kam man Beth Ditto sehr nahe, denn sie kannte keine Hemmungen und brauchte nicht nur die Bühne, sondern das ganze Lokal für ihre Performance! 2009 kam die Band ins Fri-Son in Fribourg. Da war sie schon so berühmt, dass sogar die SRF-Nachrichtensendung «10 vor 10» über sie berichtete. 2012 folgte ein weiteres Album («A Joyful Noise»), das nicht ganz so erfolgreich war, und die Band löste sich auf. Auch die Solo-Projekte von Beth Ditto konnten nicht an den Erfolg von Gossip anknüpfen. Doch inzwischen macht sie sich einen Namen als Schauspielerin. Sie hat eine Hauptrolle in der Serie «Monarch» (FOX) über eine Countrymusiker-Familie, in der sie auch Songs singt.

Gossip – Standing In the Way of Control (Live)

Mary Gauthier aus New Orleans fiel mir 1999 erstmals auf, als ich ihr zweites Album «Drag Queens in Limousines» in einem Plattenladen entdeckte. Ja, es war der Titel, der mich ansprach! Ich war nicht der Einzige, dem das dunkle und gleichzeitig auch freche Folk-Album gefiel. Sie erhielt einige Auszeichnungen dafür, und es wurde für sie zum Durchbruch. Sie war damals schon 36 Jahre alt. Wieso erst jetzt? Mary Gauthier hatte es nicht leicht. Ihre leibliche Mutter gab sie 1962 nach der Geburt im Kinderheim ab, wo sie lebte, bis sie adoptiert wurde. Ihr Adoptivvater war Alkoholiker und bald wurde auch sie alkoholabhängig. Mary sagte, sie habe sich schon mit zwölf Jahren bewusstlos betrunken. Als sie fünfzehn war, rannte sie von zu Hause weg. «Ich war ein Gay-Kid und damals war das einfach nicht cool. Damals haben sich homosexuelle Kinder das Leben genommen. Es war schrecklich, ich wollte einfach nur weg». Mary verbrachte die nächsten Jahre in der Drogenrehabilitation, in Übergangsheimen und bei Freunden. Ihren 18. Geburtstag verbrachte sie in einer Gefängniszelle, wegen Diebstahl. Sie studierte Philosophie, brach das Studium jedoch in ihrem Abschlussjahr ab. Die Kochschule aber hat sie bis zu Ende besucht und in einem gehobenen Restaurant gearbeitet. Dank finanzieller Unterstützung konnte sie ihr eigenes Cajun-Restaurant eröffnen. Sie nannte es Dixie Kitchen. Am Eröffnungsabend, dem 12. Juli 1990, wurde sie wegen Trunkenheit am Steuer festgenommen. «Ich wurde endlich nüchtern, als ich 27 Jahre alt war». All diese Erfahrungen lieferten Futter für ihr Songwriting. «Ich fing an Songs zu schreiben. Ernsthaft mit etwa zweiunddreissig Jahren». Sie nannte ihr Debüt Album «Dixie Kitchen», wie ihr Restaurant. Doch um ihr zweites Album zu finanzieren, musste sie ihr Restaurant verkaufen. Das Risiko hat sich gelohnt. Ihr viertes Album «Mercy Now» (2006) wurde ein grosser Erfolg und ein Liebling der Kritiker*innen. Darauf der Song «I Drink» den sie, wie sie sagte, nicht hätte schreiben können ohne ihre Erfahrungen.

Fish swim, birds fly
Daddies yell, mamas cry
Old men sit and think
I drink

«I Drink» wurde für Mary Gauthier zu einem ganz grossen Song, einem Türöffner. «Überall, wo ich hinging, fingen die Leute, die zu den Shows kamen, an, mit mir dazu zu singen. Manchmal ziehe ich mich zurück und lasse das Publikum einfach den Refrain singen. Es war unglaublich, auf der Bühne zu stehen und den Leuten zuzusehen, wie sie meine Worte singen. Es ist eine lustige Sache, diese Songwriting-Reise. Wenn ich meinen Songkatalog durchsehe, sind meine Songs wie eine Autobiografie. Ich sehe also keine Notwendigkeit, meine Memoiren zu schreiben». Die sind schon da.

Brandi Carlile wurde schon mit zahlrechen Grammys (es sind inzwischen neun!) und anderen Preisen ausgezeichnet. Sie ist wahrlich eine grandiose Songwriterin. 1981 in Washington geboren, zog sie mit 17 Jahren nach Seattle um Musik zu machen. Zusammen mit den Zwillingen Tim und Phil Hanseroth gründete sie eine Band. Doch Brandi war die dominieren Kraft und es war nur konsequent, dass sie unter ihrem Namen auftraten. Die Hanseroths sind allerding bis heute ihre bevorzugten Begleitmusiker, zudem ist einer der Brüder mit Brandis Schwester verheiratet. Nach einigen Veröffentlichungen im Selbstvertrieb wurde sie 2004 wurde von Columbia Records unter Vertrag genommen. Das zweite Album «The Story» (2007) wurde zum grossen Erfolg, weil ihre Songs in der Fernsehserie «Gray’s Anatomy» gespielt wurden und sicher auch wegen dem Erfolgsproduzenten T-Bone Burnett. Ab dann ging Brandi Carlile die Karriereleitet Tritt für Tritt aufwärts. Heute zählt sie zu dem wichtigsten und einflussreichsten Musiker*innen in Amerika. Die Musiker und Musikerinnen die sie auf ihrem Weg an die Spitze begleiteten, liest sich wie ein Who’s Who der Musikgeschichte. Ihre Homosexualität hat sie nie verheimlicht, was nicht schwierig war, meinte sie, «es gab Leute vor mir, die den Weg geebnet haben.» Brandi Carlile lernte 2009 ihre Lebensgefährtin kennen, die sie drei Jahr später heiratet. Mit ihr hat sie inzwischen zwei Töchter. Brandi Carliles Karriere zeigt deutlich, dass seit der Jahrtausendwende Homosexualität kein Hindernis ist im Musikbusiness.

Mit ihrem Song «The Story» wurde Brandie Carlile 2007 bekannt.


Selbstverständlich schwul, lesbisch sowieso

Der Brite Declan Bennett wurde mit 18 Jahren bekannt, als er für die Boy Band Point Break gecastet wurde. Diese hat er aber schon nach einem Jahr wieder verlassen. Stattdessen angelte er sich 2002 eine Rolle im West End im Musical «Taboo» von Boy George, das von der Drag Legende Leigh Bowery, aber auch von Boy George selbst erzählt, den sogenannten Blitz Kids (siehe 100 Jahre QueerPop, die 80er-Jahre). Weitere Musicals folgten, wie «Rent», «Once», «Jesus Christ Superstar» und «Moulin Rouge!». Zudem spielt er seit 2014 in der britischen Endlos-Serie EastEnders mit. Sein Terminkalender ist also voll. Doch er findet immer wieder Zeit, eigene Songs zu schreiben, aufzunehmen und kleine Konzert zu geben. Nur selten leider, aber dafür sind seine sehr persönlichen Songs hörenswert. 2005 veröffentlichte er unter dem Pseudonym Sumladfromcov auf seinem eigenen Label das Album «The Painters Ball» und 2006 die EP «The Kitchen». Unter seinem eigenen Namen kam dann 2008 das Album «An Innocent Evening Of Drinking», 2009 «Therapy» und 2011 «record:BREAKUP» auf den Markt. Keine Chartshits zwar, aber bis heute eine Liedersammlung, die schwules Leben ohne Klischees beschreibt. Declan Bennett lebt mit seinem Partner Fra Fee zusammen, der ebenfalls Schauspieler und Sänger ist. Du kennst ihn vielleicht aus dem Film-Musical «Les Misérables».

Ende der 90er-Jahre tauchte in der Schweizer Musikszene eine für unser Land eher ungewöhnlicher Mann auf. In der Deutschschweiz sind kernige und coole Typen wie Kuno, Endo, Gölä, Polo usw. beliebt. Michael von der Heide war da ganz anders. Er zählte Paola und Hildegard Knef zu seinen Vorbildern, nicht Stones und Dylan. Lieder aus einer weiblichen Perspektive zu singen, war für ihn selbstverständlich. Sein erstes Album war 1996 fast in jedem queeren Haushalt in der Schweiz zu finden. Mit seinem zweiten Album «30°» (1998) schaffte er den Durchbruch. Der Song «Jeudi Amour» wurde zu einem Radio-Hit, der heute noch regelmässig zu hören ist. In den 00er-Jahren lief es für Micheal von der Heide wie geschmiert. Er konnte mit Annette Humpe und 2raumwohnung zusammenarbeiten, nahm ein Duett mit Kuno Lauener von Züri West auf, machte ein Tribut-Album an Hildegard Knef, am Jazzfestival Montreux stand er 2003 für die «Hommage à Piaf» mit Ute Lemper, Angélique Kidjo und Catherine Ringer auf der Bühne. 2010 ging sogar sein grosser Wunsch seit Kindheitstagen in Erfüllung: die Teilnahme am Eurovision Song Contest.

Dass Michael von der Heide schwul ist, war von Anfang an klar. Allerdings wurde ihm früher seitens der Homoaktivist*innen oft vorgeworfen, er setzte sich zu wenig für Homo-Anliegen ein, was lächerlich war, denn es stimmte nicht. Doch eines ist wahr: Michael von der Heide ist kein Homoaktivist, sondern ein Künstler. Er ist davon überzeugt, dass sein Beruf ihn in der Öffentlichkeit definieren sollte und nicht sein Schwulsein. Das ist ihm gelungen. Michael von der Heide ist seit 30 Jahren mit dem Designer Willi Spiess zusammen. Eine Beziehung, die er nie versteckt hat. Er zeigt damit eindrücklich, dass der beste Kampf für die Akzeptanz von queeren Menschen, der ist, dass man sein Leben selbstverständlich so lebt, wie es für einen richtig ist – ohne sich zu rechtfertigen.

Die eineiigen kanadischen Zwillingsschwestern Tegan and Sara hatten eine wilde Zeit an ihrer High School in den 90er-Jahren. Sie experimentierten mit Drogen, entdeckten ihre Homosexualität, verliebten sich in ihre besten Freundinnen und sie gründeten eine Punkband. Seither machten sie nie ein Geheimnis aus ihrer Homosexualität und der Musik sind sie auch treu geblieben. Den Drogen aber haben sie abgeschworen. Im Jahr 2000 wurden sie von niemand geringerem als Neil Young entdeckt und unter Vertrag genommen auf seinem Label Vapor. Mit ihrem 5. Album «The Con» eroberten sie 2007 erstmals die Charts in Kanada und anderen Ländern. Ihre Fangemeinde ist seither stetig gewachsen, ihre Tourneen wurden ausgedehnter, ihre Musik poppiger und der Erfolg grösser. Obwohl sie als queere Band bekannt sind, haben sie auch Fans ausserhalbe des LGBT-Bubbles. Sie lieben es zwar als queere Band zu gelten, und dass ihre Konzerte ein Safe Space für Queers sind. Doch empfindet es Tegan als auch als zweischneidiges Schwert. «Ich denke, dass es als Künstler*in und als Kreative*r immer diese Art von nagendem Alarm gibt: Wenn ich dies annehme und offen darüber spreche, sende ich dann ein Signal aus an alle, die nicht wie ich sind, das sagt: das ist nicht für dich? Ich will nicht alle abzuschrecken, indem ich mich ständig auf diesen einen Teil von mir konzentriere, der mich anders macht. Es macht mich anders, sicher. Aber Liebe ist nicht anders, und Beziehungen sind nicht anders, und Herzschmerz ist nicht anders.»

Tegan and Sara – Alligator, 2009


Gender bender aus dem Osten

In den 00er-Jahren waren Trans* und Non-Binärität oder ganz einfach nicht der gesellschaftlichen Norm des Geschlechts zu entsprechen, noch kein so grosses Thema wie heute. Aber es gab schon damals Menschen, die zeigten, dass es auch anders geht.

Wenn man in einem Land zuhause ist, in dem Homosexualität und alles andere, was queer sein könnte, auf totale Ablehnung stösst, bleiben einem nur zwei Möglichkeiten: verstecken oder voll auf die Zwölf! Für letzteres hat sich Azis entschieden. In Bulgarien ist diese Person eine Provokation! Lange vor Conchita Wurst trug er Bart und Make-up. Azis stammt aus einer wohlhabenden Roma-Familie, die nach dem Fall des Eisernen Vorhangs nach Deutschland auswanderte. Er versuchte zuerst eine Karriere als Fotomodell aufzubauen, was jedoch scheiterte. Schliesslich kehrte er nach Bulgarien zurück und widmete sich der Musik. In seinem Fall war das Tschalga, eine Mischung aus traditioneller südosteuropäischer Volksmusik und Pop. Der Erfolg stellte sich bald ein, auch wegen seinem auffälligen Aussehen. Azis spielt gerne mit den Geschlechtsidentitäten und trug auch schon Silikonbrüste auf der Bühne. Er setzte sich für Gay-Rechte ein und wollte 2005 deshalb ins Europäisch Parlament gewählt werden, was nicht gelang. 2006 heiratete er mit einer pompösen Zeremonie auf der Bühne seinen Partner Nikolai, obwohl gleichgeschlechtliche Ehen in Bulgarien staatlich nicht anerkannt sind. Er liess sogar Plakate aufhängen, die ihn und seinen Mann halbnackt und küssend zeigten. Die wurden von den konservativen Politikern aber schnell zensiert. Azis verkörpert alles, was diese Politiker*innen hassen. Jede*r kennt ihn in Bulgarien. Er ist der meistgehasste Superstar in diesem Land. Und doch wird er auch geliebt, seine Musik wird gekauft. Wenn er im TV auftritt, schalten die Menschen ein. Um ein schwules Vorbild zu sein, ist er zu schrill, aber indem er seinen Landleuten seine Homosexualität voll vor den Latz knallt, schafft er es doch, dass die Akzeptanz steigt, denn so ein Schock kann auch seine heilende Wirkung haben.

Azis – Hit Me (Gay Version), 2010

 

Erstaunlich war 2007 der Auftritt von Marija Šerifović am Eurovision Song Contest. Zu diesem Anlass, der von einem Millionenpublikum geschaut wird, tragen Frauen üblicherweise die grosse Abendgarderobe oder einen Hauch von Nichts. Die Serbin Marija Šerifović trug einen Männeranzug, genauso ihre Begleitsängerinnen, und schmetterte auf der grossen ESC-Bühne eine herzergreifende Ballade, die einem den Atem stocken liess. Das war nicht Drag, sondern einfach eine lesbische Sängerin, die nicht wie eine Pop-Tussi aussehen wollte. Zurecht gewann sie mit «Molitva» den Wettbewerb.

Im gleichen Jahr als Marija Šerifović den Sieg holte, trat auch Verka Serduchka auf die ESC-Bühne. Was für ein Gaudi! Die vom Ukrainer Andrij Danylko kreierte Kunstfigur ist eine, die mensch nie vergisst. Mit ihrem trashigen Polka-Disco Song «Lasha Tumbai» landete sie auf dem 2. Platz. Der 1973 geborene Andrij Danylko zog es schon als Kind auf die Bühne. Seine Kunstfigur Verka Serduchka zeigte er erstmals als 16-Jähriger an einer TV-Show für Jugendliche, dem Club der Lustigen und Erfinderischen. (Übrigens, auch Wolodymyr Selenskyj trat in dieser Show auf.) Andrij Danylko hat zwar noch andere Kunstfiguren kreiert, doch seine Verka Serduchka, die zuerst Verkäuferin, dann Schaffnerin und Dirigentin war, kam beim Publikum an. Seine Karriere nahm an Fahrt auf und er wurde sowohl in seiner Heimat der Ukraine als auch in Russland berühmt. Mit seiner Theatergruppe «Danylko Theatre» tourte er 2002 mit dem Stück «Ich bin die Revolution» durch Belarus, die baltischen Staaten, der Ukraine und Russland. 2004 kam die Figur der «Mutter» von Verka hinzu, die eine langjährige Freundin von ihm spielte, und seitdem immer an seiner Seite ist.

2007 dann der denkwürdige Auftritt in Helsinki am Eurovision Song Contest als Vertreterin der Ukraine. Der Auftritt machte die Serduchka nicht nur in ganz Europa berühmt, sondern auch berüchtigt in Russland. Denen gefiel ihr Auftritt nämlich gar nicht, denn der Nonsens-Text «Lasha Tumbai» konnte sehr wohl als «Russia Goodbye» verstanden werden. Prompt belegte Russland sie mit einem Auftrittsverbot. Die Angebote von reichen Oligarchen für private Auftritte, nahm sie trotzdem an, was ukrainische Nationalisten verurteilten. Das Auftrittsverbot wurde zwar wieder aufgehoben und Danylko als Verka Serduchka bekam 2011 eine eigene TV-Show im russischen Fernsehen. Schon drei Jahre später wurde ihm der Vertrag wieder gekündigt. Danylko war das erste Opfer, des von Russland neu eingeführten Homo-Propaganda-Gesetzes, das u. a. Auftritte von Künstlern unter Strafe stellte, die nach Meinung des russischen Gesetzgebers mit einem «Aufdrängen von Informationen über nichttraditionelle sexuelle Beziehungen, die Interesse an solchen Beziehungen bei Kindern und Jugendlichen wecken könnte». Als im Februar die Ukraine von Russland angegriffen wurde postete Verka Serduchka und ihre «Mutter» auf Instagram ein Foto auf dem sie den Stinkefinger zeigten und schrieben dazu: «Raus hier!» An den Konzerten spielt sie seither am Schluss den Song «Russia Godbye».


Alexander Bard – Pop-Magier und Cyber-Philosoph

Eigentlich hätte Alexander Bard schon im Artikel QueerPop – die 90er-Jahre seinen Platz verdient. Doch seinen grössten Charts Erfolg hatte er 2000 mit seinem Projekt Alcazar und der Single «Crying at the Discoteque». Wir, damals noch unter dem Namen Berner gayAgenda, konnte Alexander Bard 2005 interviewen, als er an der Pride in Zürich auftrat mit seiner Band Bodies Without Organs, kurz BWO. «Ich liebe Popmusik!», sagte er uns damals, was für einen studierten Wirtschaftswissenschafter, Philosophen und Religionsgründer (!) schon etwas aussergewöhnlich ist. Der Mann aus Schweden begann seine musikalische Karriere bereits in den 80er-Jahren. Unter dem Namen Barbie machte er ziemlich trashige Songs wie «Prostitution Twist». (Wie das damals aussah, siehst du hier.) Mit dem exaltierten Hairstylisten Jean-Pierre Barda und der üppigen La Camille gründete er die Army of Lovers. «Das war eigentlich eine Drag-Show, nur mit echten Titten», bemerkte er lachend im Interview. Tatsächlich war Army of Lovers sehr camp. «Ich bin schwul. Ich greife immer auf Camp oder Gay als Bezugsrahmen zurück.» Ihr grösster Hit was 1991 «Crucified» ab ihrem Debütalbum «Massive Luxury Overdose». Neben seinen aufgedonnerten Bandmitgliedern wirkte Bard wie ein Magier. Er zauberte zahlreiche Hits in den 90er-Jahre, die typisch für Musikproduktionen aus Schweden, sehr eingängig und massentauglich waren. Dreiundzwanzig Singles, vier Alben und 20 Musikvideos sind entstanden. Sein nächstes Projekt hiess Vacuum, das vor allem in Schweden, in der Ukraine und in Italien erfolgreich war. Dann kreierte er Alcazar. Bei dieser Gruppe war er allerdings nicht selbst auf der Bühne, sondern nur im Hintergrund tätig als Produzent und Komponist. Mit einer Mischung aus 70er-Jahre Disco und modernem Pop führte er sie in die Charts. Ihre zweite Single «Crying at the Discoteque» landete im ersten Jahr des neuen Millenniums in fast jedem Land in Europa in der Hitparade. Alcazar wäre eigentlich der perfekte Act für den Eurovision Song Contest. Fünfmal haben sie an der schwedischen Vorentscheidungsshow Melodiefestivalen mitgemacht. Doch es hat nie geklappt. 2005 formte er BWO, ein sehr diverses Trio. «Ein gereifter Schwuler, ein junger Hetero und eine Kunsthändlerin zu einer Band zusammen zu schmieden ist nicht alltäglich», meinte Alexander Bard im Interview. Diese Band war in Osteuropa besonders erfolgreich. In der Ukraine hatten sie drei Nr. 1 Hits! Bards nächstes Projekt Gravitons (gegründet 2010) wurde als erste Spotify-Band bezeichnet, weil sie keine physischen Platten mehr machten, stattdessen ihre Musik nur noch digital vertrieben.

Alexander Bard ist jedoch nicht nur ein Pop-Mastermind, er ist auch Cyber-Philosoph und Religionsgründer. Zusammen mit Jan Söderqvist hat er vier Bücher über die Internet-Revolution geschrieben. In ihrem letzten «Syntheism – Creating God in The Internet Age» konzentrierten sie sich auf die partizipative Kultur als Spiritualität des digitalen Zeitalters und befürwortet einen radikalen Relationalismus, als Gegenbewegung zum Individualismus des zusammenbrechenden kapitalistische Zeitalters. Daraus entstand die neue religiöse Bewegung des Syntheismus, die es Atheisten und Pantheisten ermöglicht, dieselben Gemeinschaftsgefühle und Ehrfurcht erreichen zu können, die in traditionellen theistischen Religionen erlebt werden. Syntheos ist übrigens Griechisch und bedeutet «der Gott, den wir erschaffen». «Was wir anpeilen, ist nichts Geringeres als das heilige Herz des Digitalen», sagte Alexander Bard, der seit mehr als 30 Jahren im Musikbusiness tätig ist, seinen Fokus aber inzwischen auf die Philosophie ausrichtet. «Auf diese beiden Karrierewege bin ich sehr stolz und habe sie sehr genossen».


Sam Sparro – Vorbild für die nächste Generation

2008 landete Sam Sparro einen Hit mit «Black and Gold». Der Australier, der in L.A. aufwuchs und lebt, trat selbstverständlich schwul auf und liess sich nicht in die Nische des «Gay-Artists» abschieben. Er war eine Blaupause für die QueerPop-Stars der nächsten Generation wie Troye Sivan, Sam Smith und Lil Nas X. Doch diese haben Sam Sparro inzwischen überholt. Nach seinem erfolgreichen Debüt ging es für Sam nicht gleich gut weiter. Der mangelnde Erfolg, die zerbrochene erste grosse Liebe, eine posttraumatische Belastungsstörung und eine Drogenabhängigkeit machten ihm zu schaffen. Zwar geht es ihm inzwischen wieder besser, wie er auf Instagram verkündete, doch der grosse Erfolg kam nicht zurück. Doch Sam ist nicht nur Sänger, er ist auch als Songwriter und Produzent für andere Künstler*innen tätig wie Adam Lambert, sang mit Kylie im Duett und für Honey Dijon coverte er einen Hit der Disco-Legende Sylvester. Eins ist klar, er ist ein hervorragender Musiker und Sänger und wird uns, ob an vorderster Front oder im Hintergrund, weiterhin erhalten bleiben.

«Black and Gold» Sam Sparro, 2008


GayPop von Ludwig und Corey

Corey und ich begannen 2005 mit unserer monatlichen Musikshow GayPop im QueerUp Radio (damals noch GayRadio). Wir spielten Songs von Musiker*innen, die bei der LGBT-Community besonders beliebt waren und natürlich auch von queeren Acts. Doch diese waren damals noch dünn gesät. 17 Jahre später präsentiert sich die queere Musikszene als üppiges Blumenfeld, das in allen Farben blüht. Heute haben wir eher die Qual der Wahl, um einen stimmigen Strauss zu binden für unsere Sendung. In den 00er-Jahren wurde der Dünger auf das Feld der Musik gestreut, der die queeren Musiker*innen von heute zum Blühen brachte. Der Dünger setze sich aus verschiedenen Elementen zusammen: Da war die Musikindustrie, die merkte, dass auch ein vermeintliches Nischenprodukt Einnahmen generieren kann. Da war das (heterosexuelle) Publikum, das sich von Homosexualität nicht mehr abschrecken liess, also viel toleranter und offener wurde. Und da waren natürlich die queeren Musikschaffenden selbst, die selbstbewusst auftraten und das Versteckspiel ad acta legten. Der 100-jährige Kampf für Gleichberechtigung und Akzeptanz, der auch mittels populärer Musik ausgetragen wurde, trägt nun Früchte. Sie sind prall, süss und reif um gepflückt zu werden. Und doch scheint das Thema noch nicht gegessen zu sein. Das zeigt eine Gegenüberstellung von zwei Liedtexten, der eine ist von 1920, der andere von 2011.

Wir sind nun einmal anders, als die andern,
Die nur im Gleichschritt der Moral geliebt,
Neugierig erst durch tausend Wunder wandern,
Und für die ′s doch nur das Banale gibt.
Wir aber wissen nicht, wie das Gefühl ist,
Denn wir sind alle andrer Welten Kind;
Wir lieben nur die lila Nacht, die schwül ist,
Weil wir ja anders als die andern sind.

«Das Lila Lied», Kurt Schwabach, 1920

No matter gay, straight, or bi’, lesbian, transgender life
I’m on the right track, baby, I was born to survive
No matter Black, white or beige, chola, or Orient’ made
I’m on the right track, baby, I was born to be brave
I’m beautiful in my way ’cause God makes no mistakes
I’m on the right track, baby, I was born this way
Don’t hide yourself in regret, just love yourself, and you’re set
I’m on the right track, baby, I was born this way, yeah

«Born This Way», Lady Gaga, 2011


DJ LUDWIGS PLAYLIST

100 Jahre QueerPop – die 70er Jahre
Mit den Sänger*innen und Songs aus dem Artikel und vielen mehr.


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