Dua Lipas optimistischer Dance-Pop-Radikalismus. Nia Archives Reaktivierung von Jungle und Drum’n’Bass. Die queere Indie-Pop-Dance-Sensation: die Band Porij. Das futuristisch nostalgische Comeback der Pet Shop Boys. Das Versteckspiel geht weiter: SIA und Lynks. Der Aufstieg von Girl In Red in den Queer-Pop-Himmel. St. Vincents Album über den Urschrei. Grandioser Singer/Songwriter-Queer-Pop mit dem Newcomer Loren Kramar. Neue Blues-Soul-Theater-Revue mit Finn Ronsdorf. Der Lil Nas X aus Brasilien: der magnetische WD.
DUA LIPA
Radical Optimism (Warner)
Mit ihrem Blockbuster-Album “Future Nostalgia” aus dem Jahr 2020 wurde die britisch-albanische Sängerin Dua Lipa einer der grössten Popstars unserer Zeit. Nicht nur spendete Dua Lipa Trost während des Lockdowns, sondern verhalf Disco und Eskapismus zu einem veritablen Revival, das noch bis heute anhält. Zwar hat Dua Lipa mit «Future Nostalgia» die Messlatte für das Nachfolgealbum verdammt hochgelegt, aber es gelingt ihr mit «Radical Optimism» mühelos, die Erwartungen zu erfüllen oder gar zu übertreffen. Die neuen Songs strahlen pure Dance-Pop-Freude aus und wollen in Clubs, Stadien oder an Privat-Partys mit Freund/innen gespielt werden. Zum etablierten Musiker/innen- und Songwriter/innen-Team aus Danny L. Jarle, Caroline Ailin und Tobias Jesso Jr. gesellte sich noch der Produzent und Musiker Kevin Parker der Psych-Pop-Gruppe Tame Impala.
NIA ARCHIVES
Silence Is Loud (Island)
Die junge, coole queere Britin Nia Archives hat die UK-Underground-Szene der Neunziger Jahre für sich entdeckt und zwei in Vergessenheit geratenen Stilrichtungen aus jener Zeit in den aktuellen Pop-Mainstream hinübergerettet: Jungle und Drum’n’Bass. Sogar der damalige Jungle-Star Goldie hat der 24-jährigen Newcomerin auf dem Track «What Is Like» sein Segen für die originelle Wiederbelebung dieses Herzstücks der britischen Clubszene gegeben. Auf «Silence Is Loud» macht Nia Archives aber auch keinen Hehl aus ihrer Bewunderung für den Brit-Pop à la Blur oder den British Soul à la Amy Winehouse. In Songs wie «Blind Devotion» oder «Out Of Options» ist eine faszinierende stimmliche Ähnlichkeit mit der tragischen Soul-Pop-Ikone nicht zu überhören.
PORIJ
Teething (PIAS/Rough Trade)
Auch die vierköpfige queere Band Porij aus Manchester ist merklich von der britischen Dance-Szene der Neunziger Jahre beeinflusst. Auf ihrem Debütalbum «Teething» entfachen Porij ihre Leidenschaft für UK-Garage, Drum’n’Bass und Deep House. In ihrer Hommage an die heissen Club-Nächte von Manchester geht es gleichzeitig auch um die zähneknirschende Annahme des Schreckgespenstes namens Erwachsenwerden. Sängerin und Keyboarderin Scout Moore (“Egg“), Bassist James Middleton, Gitarrist Jacob Maguire und Schlagzeuger Nathan Carroll lassen ihre persönlichen Erfahrungen in den Songs einfliessen und machen ihre Dance-Musik dank den Mitteln einer «richtigen» Band schon ein bisschen menschlicher. Der legendäre Produzent David Wrench, der für seine Arbeit mit Frank Ocean, FKA Twigs und The XX bekannt ist, hat Porijs musikalische Coming-of-Age-Geschichte mit euphorisch-melancholischen Klangbildern geschmückt.
PET SHOP BOYS
Nonetheless (Parlophone)
Die 80s- und 90s-Helden Pet Shop Boys müssen niemandem mehr beweisen, welchen Stellenwert sie in der queeren Pop-Welt haben, sie möchten es dennoch (oder auf Englisch: Nonetheless) nochmals versuchen. Mit schwulem Charme, Wortwitz, Engagement und musikalischem Können. Auf ihrem fünfzehnten Album tun sich Neil Tennant und Chris Lowe mit dem Produzent James Ellis Ford zusammen, der von Brit-Pop-Bands (Blur und Arctic Monkeys) bis zu Disco-Divas (Kylie und Jessie Ware) alles mit Rang und Namen unter seinen Fittichen genommen hat. Auf «Nonetheless» übersetzen Pet Shop Boys ihre Vergangenheit geschickt in die Gegenwart und balancieren souverän zwischen dynamischen Dance-Pop-Nummern und introspektiven Balladen mit wunderschönen Streicherarrangements.
SIA
Reasonable Woman (Monkey Puzzle Music Inc. / Atlantic)
Sia Furler hat Songs für Rihanna, Céline Dion, Beyoncé, Britney und viele weitere Megastars geschrieben, dann wurde sie mit eigenen Hits wie „Chandelier“, „Cheap Thrills“ oder „Move Your Body“ berühmt. Nach einem etwas missratenen Ausflug in die Film-Branche im Jahr 2021 kehrt die singende Perücke mit der unverkennbaren Stimme ins Musikgeschäft zurück. Ein weiser Entscheid einer inzwischen vernünftig gewordenen Frau. Auf «Reasonable Woman» bleibt Sia ihrem Erfolgsrezept treu. Ihre Power-Balladen bewegen sich elegant auf dem schmalen Pfad zwischen Pathos und Kitsch. Die Mid-Tempo- und schnelleren Tracks offerieren nach wie vor catchy Hooks, gehen manchmal aber zu sehr auf Nummer sicher. An den 15 Songs haben sich sehr unterschiedliche Gäste beteiligt wie Kylie Minogue, Chaka Khan, Paris Hilton, Tierra Whack, Labrinth und Kaliii.
LYNKS
Abomination (PIAS/Heavenly/Rough Trade)
Der Brite Lynks versteckt stets sein Gesicht hinter einer Fetisch-Maske. Und so geht es bei seinem Debüt «Abomination» konsequent um Sex, Drugs und queeren Electro-(Punk)-Clash in allen möglichen Variationen. Lynks liebt das Spiel mit den Extremen, nimmt alles zum Glück auch nicht so ernst. Auf «Abomination» entführt Lynks auf eine sehr spritzige Tour durch die queere Subkultur der letzten drei Dekaden. Viel erinnert an die Electro-Clash-Ikone Peaches. Ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen, verwandelt Lynks die hedonistische, sexpositiven Haltung der queeren Welt in exzessiven elektronischen Beats und Melodien. Kraftvoller könnte Lynks kaum auf die Zwölf hauen. Nach 13 nervösen Songs ist dann Zeit für Kuschelrock.
GIRL IN RED
I’m Doing It Again Baby! (Columbia/Sony)
Die queere Norwegerin mit der roten Wollmütze und dem karierten Flanellhemd will es nochmals wissen. Auf «I’m Doing It Again Baby!» verabschiedet sich Girl In Red von dem Bedroom-Pop ihrer Anfänge und schielt auf die Stadien und Grossraumdiscos dieser Welt. Die queere Ikone der GenZ befasst sich nach wie vor mit mentaler Gesundheit, ihre Songs wirken aber hoffungsvoller und verspielter als je zuvor. Sie legt eine neue Vielschichtigkeit an den Tag und beweist Mut, perfekt vom Genre zu Genre zu switchen. Herzstück des Albums bildet die Kollaboration mit Sängerin Sabrina Carpenter «You Need Me Now?».
St. VINCENT
All Born Screaming (Total Pleasure/Virgin/Universal)
Nach «Daddy’s Home», dem Konzeptalbum von 2021 über die Entlassung ihres Vaters aus einem US-Bundesgefängnis, widmet sich Annie Clark alias St. Vincent auf «All Born Screaming» dem Urschrei, dem Ursprung des Lebens und dem Anfang des Protests. Alles rotiert um Lebensglück, Wut, Verzweiflung und Akzeptanz. Die queere Musikerin legt die blonde Vamp-Perücke und den warmen harmonischen 70s-Pop/Rock/Soul-Sound des Vorgängers ab und tritt in die Ära des «Post-Plague-Pop» ein. St. Vincent zeigt sich experimentierfreudig, roh, authentisch und ungefiltert. Zum ersten Mal verzichtet St. Vincent auf einen Co-Produzent und ist allein für Songwriting, Instrumentierung und Produktion zuständig. Sie lässt sich immerhin von Freunden wie Dave Grohl, Cate Le Bon und Josh Freese unterstützen.
LOREN KRAMAR
Glovemaker (Secretly Canadian)
Loren Kramar ist ein US-amerikanischer schwuler Singer-Songwriter, der optisch einem Jesus Film-Biopic entsprungen zu sein scheint. Wie Father John Misty und zum Teil auch Lana Del Rey orientiert sich auch Loren Kramar an den orchestralen und verführerischen Pop-Soul der goldenen 70er-Jahre. Mit samtener und schmetternder Stimme lotet er auf «Glovemaker» die Schattenseiten des Ruhms und der ständigen Suche nach Aufmerksamkeit aus. In «Gay Angels», «No Man» und «I’m A Slut» setzt er sich mit der Kombination aus seinem Schwulsein und einem Leben im Scheinwerferlicht auseinander. Sein Debütalbum ist eine dramatische Ode an die Liebe und Einsamkeit, an die Träume, die Hollywood und Los Angeles versprechen, aber fast nie halten. Am Schluss regnet es und es ist dunkel auf dem Hollywood Boulevard.
FINN RONSDORF
From Mind We Arise (Finn Ronsdorf)
Finn Ronsdorf ist ein 25-jähriger Wahlberliner aus dem Schwarzwald, der als Performance-Künstler, Theaterschauspieler, Tänzer, Maler und Singer-Songwriter tätig ist. Auf seinem Debütalbum «From Mind We Arise» dreht sich alles um die Frage nach dem Menschsein und dem eigenen Platz in der Welt. Mit einer emotionalen Stimme zwischen Jungstötter, Perfume Genius, Drangsal, Jeff Buckley und Nina Simone begleitet uns Finn Ronsdorf durch ein abwechslungsreiches Repertoire aus Blues, Soulballade, Indierock, Schlaflied und Musiktheater. Es ist eine Art Musik, die nach kleinen Theatern klingt, die es schon seit Langem nicht mehr gibt. Das Lied «Noch morgen wirst du sein» ist die einzige Konzession an die deutsche Sprache. Sonst wird Englisch gesungen. Anspieltipp: «Let’s Say Goodbye».
WD
MAGNÉTICO (Universal)
Washington Duarte alias WD bildet so etwas wie das brasilianische Pendant zum schwulen Rapper Lil Nas X. Wie beim US-amerikanischen Kollegen bildet Queerness auch bei WD das absolute, leuchtende Hauptmerkmal seiner Musik und Performances. Nach Auftritten in diversen Castingshows wie «The Voice of Brazil» und «Uruguay’s Got Talent» bringt WD endlich sein Debütalbum heraus. «Magnético» ist in drei Akten aufgeteilt, die eine körperliche, emotionale und intime Reise ins eigene Ich versinnbildlichen. Die Songs oszillieren zwischen R&B, Pop, Afrobeats und lateinamerikanischen Rhythmen wie Bolero, Tango und Bachata. Das Bindeglied in der musikalischen Kette ist die androgyne Kunstfigur Magnético, die über eine enorme Anziehungskraft verfügt und ihre Zuhörer/innen in ihren Bann zieht.
SENDUNG HÖREN
Playlist
Die Musiktipps von DJ Corey immer am 1. Sonntag im Monat im QueerUp Radio auf Radio RaBe
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