Der Lesben-Country von Julien Baker & Torres. Melancholisch-schönes Singer-Songwriting aus lesbischer und trans-Perspektive: Gigi Perez und Bells Larsen. Alte und neue Generationen des Gay-Pop: Der Erasure-Sänger Andy Bell und das Glam-Pop-Phänomen Jake Wesley Rogers. Neue queere Electro-Pop-Chansons von Vendredi sur Mer. Neue Töne aus Mexiko und Griechenland: Natalia Lafourcade und ΣTELLA. Der Lil Nas X vom R&B: DESTIN CONRAD. Der schwule Comedian Pop von Jordan Firstman.
JULIEN BAKER & TORRES
Send A Prayer My Way (Matador/Beggars/Indigo)
Julien Baker von Boygenius geht eine Kooperation mit Mackenzie Scott alias Torres ein. Beide queeren Künstlerinnen stammen aus den US-Südstaaten und sind in ultrakonservativen und -religiösen Kreisen aufgewachsen, wo sie wegen ihres Andersseins gemobbt wurden. Das hinterliess Spuren in ihrem Seelenleben. Lange Zeit lehnten sie Country-Musik als ein Symbol für eine weisse, heteronormative und nationalistische Kultur ab. Auf «Send A Prayer My Way» versöhnen sich Julien Baker und Torres mit dem klassischen Country-Sound und verpassen ihm einen deutlichen lesbischen Anstrich. Sie interpretieren den Outlaw-Country neu und bewegen sich elegant auf einem Pfad, der vor ihnen alte und neue queere Ikonen von Lavender Country bis Orville Peck beschritten haben.
GIGI PEREZ
At the Beach, In Every Life (Outtahere, Island Records)
Als lesbisches Mädchen an einer christlichen High School in Florida fühlte sich die heute 25-jährige Gigi Perez ausgegrenzt und nicht akzeptiert. Musikschreiben war für sie die grösste Flucht von einer grausamen homophoben Welt. Heute gilt Gigi Perez als Indie-Folk-Sensation. Ihre Songs erzählen offen und verletzlich von lesbischer Liebe und vom Tod geliebter Menschen. Insbesondere der Verlust ihrer Schwester Celene hat Gigi Perez arg zugesetzt. Nachdem der gleichnamige Song «Celene» und das Trennungslied «Sailor Song» viral gegangen sind, legt Gigi Perez mit «At The Beach, In Every Life» ihr Debüt vor. Mit zerbrechlicher und zugleich kraftvoller Stimme berührt Gigi Perez mit ihren neuen persönlichen Geschichten, die sie in lofi-produzierten Indie-Folk-Songs à la Lucy Dacus oder Bon Iver verpackt.
BELLS LARSEN
Blurring Time (Royal Mountain Records)
Bells Larsen ist ein kanadischer Transgender-Musiker. Neulich kam er in die Schlagzeilen, weil er seine US-Tournee wegen verweigertem Visum aufgrund von Transphobie absagen musste. Auf seinem neuen Album «Blurring Time» versammelt Bells Larsen neun intime Indie-Folk-Juwelen, die zwischen 90’s LoFi-Indie und glühenden Folk-Balladen oszillieren. Damit vertont er Themen wie Trauer, queere Liebe, Identität und Akzeptanz. Seit seinem Debütalbum hat sich seine Stimme durch das Testosteron vertieft. Dank der Studio-Technik werden die alte höhere und die neue tiefere Stimme miteinander verwoben. Die zarten Melodien und poetischen Texte verbinden sich zu einem eigenen Sound, der entwaffnend ehrlich, eindringlich und warm zugleich ist.
ANDY BELL
Ten Crowns (Crown/PIAS/Integral)
Unglaublich, aber Andy Bell ist am 25. April 2025 60 geworden. Der Sänger zählt neben anderen 80s-Helden wie Boy George, Marc Almond, Jimmy Somerville und die Boys von Frankie goes to Hollywood zu den ersten Pop-Stars, die offen mit ihrer Homosexualität umgingen. Seit knapp 30 Jahren bildet Andy Bell mit dem Sound-Tüftler Vince Clarke den Synthie-Pop Duo Erasure. Diesmal ist er aber solo unterwegs. Sein drittes Solo-Album «Ten Crowns» unterscheidet sich nicht gross vom Erasure-Sound. Andy Bell setzt auf schillernden, schnörkellosen und fröhlichen Synthie-Pop, auch wenn er mit einigen Abstecher in High-Energy-Disco und House ein bisschen mehr in Richtung Dancefloor schielt. Das ist bestimmt auf den Einfluss des Produzenten, Remixers und DJs Dave Audé zurückzuführen, der an den Regeln sass. Die melancholische leicht schlagerhafte Synthie-Hymne «Heart’s A Liar» mit Blondie-Ikone Debbie Harry ist unser heimlicher Favorit.
JAKE WESLEY ROGERS
In The Key Of Love (Facet Records/ Warner Records Inc.)
Das 28-jährige Glam-Pop-Phänomen aus Missouri ist eine Wucht und der erste Künstler unter Vertrag beim Label des Promi-Schwulen, Hitschreibers und Produzenten Justin Tranter. Jake Wesley Rogers Popmusik ist von mitreissender Intensität, gekonntem Songwriting und seiner himmlischen Stimme geprägt. Er liebt den Glanz, den Glamour, die grosse Geste und die Rollenspiele à la Bowie oder Lady Gaga. Seit seiner EP «Pluto» (2022) kann Jake auf eine prominente Fan-Base zählen, zu der auch Elton John und Cyndi Lauper gehören. Der erste soll in ihm sein jüngeres Ich aus den 70er-Jahren wiedererkennt haben, die zweite hat ihn als Support für ihre Farewell-Tour bereits engagiert. Die Songs auf «In The Key Of Love» sind klar rückwärtsgewandt, aber auch auf der Höhe der Zeit und sie reflektieren die neue allgemeine Tendenz zu zeitlosem Pop.
VENDREDI SUR MER
Malabar Princess (A+LSO / Sony Music France)
Am 3. November 1950 stürzte die Malabar Princess, ein Flugzeug der Air India, am Mont-Blanc-Massiv ab. Dieses Unglück nutzt die Genferin Charline Mignot alias Vendredi sur Mer als Metapher für eine Besinnung auf ihre Schweizer Wurzeln nach einem zehnjährigen Exil in Paris. Im Unterschied zur Malabar Princess gelingt Vendredi sur Mer aber eine sanfte Landung. Auf ihrem dritten gleichnamigen Album verdeutlicht sie die Sehnsucht nach ihrer Heimat und nach den Alpen. Auf dem Coverbild posiert sie im knallroten Regenmantel wie ein modernes Heidi vor einer Postkarten-Bergkulisse. Aber erwartet bitte kein Folklore-Feuerwerk. Musikalisch bleibt Vendredi sur Mer ihrem Mix aus Electro-Pop und Chanson mit queeren Texten treu, auch wenn die Songs diesmal nostalgischer, ruhiger, sanfter und persönlicher geworden sind.
NATALIA LAFOURCADE
Cancionera (Sony Music Mexico)
Sängerin und Musikerin Natalia Lafourcade kann auf eine mehr als zwanzigjährige Karriere zurückblicken und ist bisher die weibliche Künstlerin mit den meisten Latin-Grammy-Auszeichnungen. Sie gilt als Virtuose, Innovatorin und zugleich Hüterin der musikalischen Tradition Mexikos. Sie vereint Bossa Nova, Bolero und Alternative Rock zu einem einzigartigen Stil. Auf ihrem neuen Album «Cancionera» begibt sich Lafourcade auf eine persönliche klangliche Reise zwischen Vergangenheit und Gegenwart und kehrt zur Intimität ihrer Stimme und ihrer Gitarre zurück, inspiriert von den akustischen Konzerten Bob Dylan, Joni Mitchell, Violeta Parra und Mercedes Sosa. Es gibt auch wunderschöne Kooperationen mit El David Aguilar, Israel Fernàndez und Hermanos Gutiérrez.
ΣTELLA
Adagio (Sub Pop/Cargo)
Die griechische Musikerin Stella Chronopoulou aka Σtella (mit dem griechischen Buchstaben Sigma) bringt ihr fünftes Album auf dem amerikanischen Label Sub Pop Records heraus. Der Titel «Adagio» kann den Sound von Σtella sehr gut beschreiben. Die neun Songs, die zwischen Ethno-Folk und Dream-Pop pendeln, verbreiten eine melancholische, leicht psychedelische Laid-Back-Stimmung, die zum Entspannen und Zurücklehnen einlädt. Σtella singt in Englisch und Griechisch. Sie hat eine ausgesprochene Sehnsucht nach der Musik ihrer Heimat, insbesondere nach dem sogenannten Néo kýma-Stil, einer Art griechischer Bossa-Nova, die Ende der 60er-Jahre in Mode war. Aus dieser Zeit stammt „Ta Vimata“, einem Cover von Litsa Sakellariou aus dem Jahr 1969. Auch die anderen entschleunigten, samtenen Songs erinnern an Astrud Gilberto, Sade, Beach House und Khruangbin.
DESTIN CONRAD
Love On Digital (EMPIRE)
Die US-amerikanische R&B-Szene wird immer queerer und bunter. Destin Conrad ist ein offen schwuler R&B-Sänger aus Tampa, Florida. Er startete seine Karriere mit kurzen Videos auf der Plattform Vine und als Song-Lieferant u.a. für R&B-Star Khelani, in deren Vorprogramm er auch schon spielen durfte. Mit seinen ersten EPs «Colorway», «Satin», «Submissive» und «Submissive 2» gab er schon einen Vorgeschmack auf seinen persönlichen Stil. Bei ihm treffen Akustikgitarren und ätherische R&B-Vibes auf explizit schwule Texte über Liebe und Sexualpraktiken und auf seine gefühlvolle und butterweiche Stimme. Auf seinem offiziellen Debüt «Love On Digital» verfeinert Destin Conrad den futuristischen, perkussiven R&B der Jahrhundertwende und thematisiert die Freuden und Tücken der schwarzen queeren Liebe im digitalen Zeitalter. Dabei wird er von queeren mehr oder weniger bekannten Acts unterstützt, u.a. von Lil Nas X, Kehlani, Cari, Teezo Touchdown und serpentwithfeet.
JORDAN FIRSTMAN
Secrets (Capitol Records)
Der 33-jährige Jordan Firstman ist in erster Linie Filmemacher, Schauspieler und Autor für Fernsehserien. Seit der Corona Pandemie ist er vor allem durch seine satirischen Impressions auf Instagram bekannt, in welchen sein komödiantisches Talent stark zum Tragen kommt und seine Fans ihm ihre dunkelsten erotischen Sehnsüchte und Geheimnisse enthüllen. Nun vertont Jordan Firstman die Geständnisse seiner Gefolgschaft auf seinem Debüt «Secrets», welches er als sexpositives Konzeptalbum definiert. Damit schafft er einen unmittelbaren Klassiker zwischen Comedy und (Queer) Pop, einer Verbindung, der ich in der Regel mit grosser Skepsis begegne, die hier aber wirklich perfekt funktioniert. Musikalisch ist das Album sehr unvorhersehbar und springt von Country zu Kammerpop, R&B, Grunge, Rap, Rock und sogar UK-Garage. Auch die beteiligten Gäste (u.a. Rufus Wainwright, Julia Fox, Suki Waterhouse, LAUNDRY DAY) und Produzenten (u.a. Zach Dawes und Sega Bodega) reflektieren die enorme musikalische Bandbreite. «Secrets» ist bestimmt das Queer Comedy Album des Jahres.
SENDUNG HÖREN
Playlist
Die Musiktipps von DJ Corey immer am 1. Sonntag im Monat im QueerUp Radio auf Radio RaBe
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