Raus aus der Komfortzone!

Wir standen uns die Füsse in den Bauch. Ich spürte meine Zehen nicht mehr, die Fingerkuppen waren taub, aber es störte mich nicht. Es war schliesslich für die gute Sache.

Von Lovis Cassaris

Ich hatte vor ziemlich genau einem Jahr darauf bestanden, so früh wie möglich nach Basel zu fahren, um noch einen Platz im BLT-Tram zu ergattern. Auf dem Weg zum Treffpunkt roch die Luft in meiner kleinen Welt nach Aufstand und Revolution. Ich fühlte mich bedeutend. Ein Kiss-In gegen Diskriminierung sollte stattfinden. Ein paar Tage zuvor hatte BLT-Direktor Andreas Büttiker angekündigt, sechs Plakate der Basler Jugendgruppe Anyway mit sich küssenden gleichgeschlechtlichen Paaren nicht in den Trams aufhängen zu wollen. Der Online-Shitstorm war bemerkenswert gewesen. Nächtelang zählte ich die Kommentare auf Facebook und Twitter, googelte Artikel. Und rechnete mit mindestens dreihundert Anwesenden. Diesmal werden wir alle gemeinsam etwas bewegen, dachte ich. Diesmal zeigen wir uns. Lassen uns nicht alles gefallen.

Lovis Cassaris

Lovis Cassaris

Wie oft hatte ich von Kiss-Ins gelesen. Eine Knutsch-Aktion in Berlin Schöneberg hatte vor Jahren über tausend Menschen vor einer Eisdiele versammelt. Nicht nur Lesben und Schwule, Bisexuelle, Transgender*, Crossdresser und Queere hatten damals gegen Homo- und Trans*phobie demonstriert. Auch Freunde und Familienmitglieder. Straight people. Ich hatte grosse Erwartungen. Tausend würden es nicht werden, wir waren ja schließlich nicht in einer Weltstadt. Aber ein paar hundert bestimmt.

“Was machst du, wenn deine Partnerin nicht mitkommen kann?”, wurde ich von einer Bekannten gefragt. “Wenn es sein muss, küsse ich eine Freundin. Oder eine Fremde”, antwortete ich augenzwinkernd. Aber es kamen keine Freundinnen mit, die ich im Notfall hätte küssen können. Arbeit, Müdigkeit, eine Geburtstagsparty, die sich nicht absagen liess. Die üblichen Gründe halt. “Es kommen bestimmt noch ein paar mehr”, sagte ich zuversichtlich zu meiner Begleitung, nachdem ich einen Blick auf die Uhr geworfen hatte. Aber sie kamen nicht. Meine Partnerin war schüchtern, zerbrach sich den Kopf über die Medien. Denn bestimmt würde zumindest die Regionalzeitung anwesend sein. Oder ’20 Minuten’. Aber sie begleitete mich. Ich war stolz auf uns.

Als das Signal zum Start gegeben wurde, waren wir vielleicht achtzig Demonstrierende. Einige Gesichter waren mir bekannt. Vor der Tramhaltestelle warteten noch ein paar Leute. Das war’s auch schon. Wenige Plakate mit politischen Parolen, ansonsten stille Frauen und Männer, in dunkler Winterkleidung eingepackt. Keine Wut, keine Euphorie, und somit keine besondere Aufmerksamkeit. Die Medien waren da. Nicht besonders viele, aber sie waren da. Nur, wo waren die ganzen Menschen, die sich zuvor im Internet derart empört hatten? Ich schämte mich auf einmal fremd. Erst einen verbalen Aufstand machen, und dann zuhause sitzen bleiben. Was würden die Journalisten schreiben? War diese Aktion überhaupt noch einen Artikel wert? Als wir uns zu küssen begannen, machte mein Herz vor Aufregung einen Sprung. Gab ich schließlich nicht gerade ein politisches Statement ab?

Die Fahrt dauerte genau drei Haltestellen. Unser Wagen war nahezu leer. Als wir wieder ausstiegen, war alles schon vorbei. Die Gruppe löste sich auf, die Wege trennten sich. Ich war weder berauscht noch innerlich erfüllt. Etwas enttäuscht begab ich wieder nach Hause in den Aargau und ärgerte mich nun über die Kälte. Fragen beschäftigten mich noch die ganze Nacht. Was hindert Menschen daran, sich politisch zu engagieren? Was hält sie davon ab, sich gegen offensichtliche Diskriminierung aufzulehnen, wenn der Staat sie schon nicht in Schutz nimmt? Was bringt sie dazu, sich zwar öffentlich im Netz zu ärgern, aber genau dann im Privaten zu bleiben, wenn sie Präsenz zeigen müssten? Weil sie denken, dass der Aufwand sich nicht lohnt? Weil ihr Händchenhalten und Knutschen in der Öffentlichkeit sowieso jeden Tag ein politischer Akt ist? Weil sie der Meinung sind, es sei alles verschwendete Energie?

Letzten Sommer sammelte ich beispielsweise auf der Strasse Unterschriften für die RASA-Initiative. Die Zahl derjenigen, die weder politisch informiert noch interessiert waren, war erschreckend hoch. Junge Hipster, Geeks und wie sie alle heissen, die mir weismachen wollten, es sei sowieso sinnlos, die eigene Stimme abzugeben, weil es immer jemand gibt, der das Gegenteil abstimmt, und gleichzeitig davon überzeugt sind, mit dem Verzehr von veganen Würstchen die Welt zu verändern. Ich diskutierte mit Lesben und Schwulen, die der Meinung waren, es gebe mittlerweile zu viele Ausländer. Wer kennt sie nicht, die bösen Schrödingers-Ausländer, die uns die Jobs klauen und gleichzeitig faul am Hauptbahnhof Zürich abhängen und nicht arbeiten wollen. “Irgendwann reicht es”, sagte mir eine. Und ich fragte mich, ob sie als burschikos auftretende Lesbe selbst nie Diskriminierung erfahren hat.

Ich sitze gerade in der Bahn, während ich diesen Artikel schreibe. Ein paar Reihen hinter mir sitzt ein Typ, der sich in der Ruhezone das Recht herausnimmt, lautstark über Serben und Homosexuelle zu schimpfen. Selbst sein Hund hört nicht auf zu kläffen. “Irgendeine Minderheit hat immer was zu melden”, echauffiert er sich. Dann erzählt er seinem Gesprächspartner, dass er einmal von Serben zusammengeschlagen wurde. Seitdem seien die Ausländer bei ihm “unten durch”. Ich bin mir ziemlich sicher, dieser Mann wird am 28. Februar abstimmen. Er wird die Durchsetzungs- und CVP-Initiative befürworten. Und was werden wir LGBT*-Menschen tun?

Gerade geht mir durch den Kopf, dass unser Leidensdruck vielleicht noch nicht hoch genug ist. Vielleicht braucht es mehr ausgeschlagene Zähne, blaue Augen und gebrochene Rippen, damit wir aus dieser politischen Lethargie herausfinden. Wenn menschenverachtende Initiativen aufgrund fehlender Reflexion angenommen werden und die Falschen darin eine Legitimierung sehen, sind wir vielleicht nicht mehr so weit entfernt.

Scroll to top