100 Jahre QueerPop – Teil 3 – Die 70er-Jahre

Die 70er-Jahre waren für Homosexuelle das Jahrzehnt der Befreiung. Sie forderten ihre Rechte ein und feierten gleichzeitig Party mit Discomusik. Homosexualität wurde zum Thema — im Rock, im Schlager, im Country — eigentlich in der ganzen Populärkultur.

 

 


Für Schwule und Lesben brachten die 70er-Jahre grosse Änderungen. Einerseits wurde endlich über Homosexualität gesprochen und das Bild, das die heteronormative Gesellschaft von ihnen hatte, begann sich zu ändern. Andererseits wandelte sich auch die Wahrnehmung, die sie von sich selbst hatte. Schwule und Lesben entwickelten in diesem Jahrzehnt ein neues Selbstverständnis und ein Selbstbewusstsein. Sie begriffen, dass sie etwas ändern können, wenn sie es nur anpacken. Das hatte damit zu tun, dass die Gesetze gegen homosexuelle Akte, nach jahrzehntelangem vergeblichem Kampf, in vielen Staaten endlich aufgehoben wurden. Sie konnten sich nun von der Angst befreien, im Gefängnis zu landen, wenn sie ihre Liebe geben und empfangen. Die 70er-Jahre bedeuteten für Sex ganz allgemein und für Homosex im Besonderen eine Zeitenwende.

Als in der Nacht auf den Samstag, 28. Juni 1969 vor dem Gay-Club Stonewall Inn in Manhattan eine Drag Queen den ersten Stein gegen die Polizei warf, die eine ihrer damals üblichen schikanösen Razzien machte, wurde aus dem Steinwurf ein mehrtägiger, lautstarker und gewalttätiger Aufstand. Dieser Protest gilt heute als Wendepunkt in der Homosexuellenbewegung. Kurz darauf wurden in der «neuen Welt» Zeitschriften gegründet mit Namen wie «Gay», «Come Out!» und «Gay Power». Aus der «Homophilen Bewegung», wie sie bis dahin genannt wurde, entstand ein neuer Aktivismus. Die jungen Schwulen und Lesben nannten ihre politischen Gruppen jetzt «Gay Liberation Front» und «Gay Activists Alliance». Das bis dahin verpönte Wort «gay» wurde jetzt mit Stolz getragen. Auch in Europa. Im deutschsprachigen Raum bemächtigten sich die homosexuellen Männer des Wortes schwul. Wurde sie bisher damit beschimpft, nannten sie sich nun selber so und nahmen ihm damit die verunglimpfende Wirkung. Auch in der «alten Welt» wurden politische Vereine gegründet. In Bern beispielsweise wurden 1972 die HAB (Homosexuelle Arbeitsgruppen Bern) gegründet.

Bereits ein Jahr nach den Stonewall-Unruhen fand in New York die erste Gay Demo statt. Damals unter dem Namen Christopher Street Day, denn auf dieser Strasse fand der Stonewall-Aufstand statt. Bis zu 1000 Leute nahmen an dem Stonewall-Gedenktag und Protestmarsch teil. Auch in San Francisco, in Los Angeles und in London fanden 1970 die ersten Gay-Demos statt, die später Gay Pride genannt wurden. Schon damals wurden die Kundgebungen von Musik begleitet. Der Brite Tom Robinson schrieb für die London Gay Pride Parade 1976 sogar einen eigenen Song: «Glad to Be Gay». Polly Perkins trat 1979 an der London Pride auf. Sie war ein ehemaliger Teenstar und Darstellerin in einer Soap. 1973 zeigte sie sich auf ihrem Album «Liberated Woman» offen lesbisch. Doch an besagter Pride wurde sie von den lesbisch-feministischen Frauen ausgebuht — weil sie Lippenstift trug.

Natürlich ging es bei den Demos und in den Polit-Gruppen darum, Rechte einzufordern. Jedoch genau so wichtig war dabei, das eigene Selbstverständnis zu fördern, sich vom Stigma zu befreien und aller Welt zu zeigen: Wir schämen uns nicht schwul/lesbisch zu sein, wir sind stolz darauf. Diese neue Freiheit wurde in vollen Zügen genossen. Nicht nur politische Organisationen wurden gegründet, sondern auch Discos, Bars und Sexclubs. Die Homos bauten ihre eigene Infrastruktur auf und malten sie in den Regenbogenfarben an. Die Partys waren wild und lang, und Sex wurde zu einer Freizeitbeschäftigung. Paradiesische Zustände? Nicht ganz. Schwule und Lesben waren nach wie vor Anfeindungen ausgesetzt. Nur weil sie jetzt stolz waren, konnte das die Homophobie nicht ausrotten. Und am Ende des Jahrzehnts wird ein Virus auftauchen, das dem Hedonismus der Gay-70’s ein tragisches Ende bereitet.

Buchtipps

Um in die Welt der Gay-70’s einzutauchen:

«Tänzer der Nacht (Dancer from the Dark)»
Andrew Holleran, 1978
Der Autor beschreibt den Gay-Lifestyle der 70er-Jahre in New York. Disco, Sex, und das Hoffen auf die echte Liebe.

Die passenden Bilder dazu liefert:
«Fire Island Pines | Polaroids 1975 – 1983»
und
«63 E 9th Street | NYC Polaroids 1975 – 1989»
von Tom Bianchi, mehr dazu.


 

Schwule Rockstars

Pop rühmt sich immer, am Puls der Zeit zu sein — wenn nicht sogar einen Schritt voraus. Dass die Gay-Pride Auswirkungen auf die Musik hatte, ist also nur konsequent. Musiker wie David Bowie und Marc Bolan von T-Rex zeigten sich androgyn und kokettierten mit der Bisexualität. Mick Jagger zeigte auf der Bühne eine agile Männlichkeit, die so gar nicht dem Bild eines stoischen, starken Mannes entsprach. Es waren also Heteromänner, die eine neue Männlichkeit salonfähig machten, die ziemlich stark von der Ästhetik der Schwulen geprägt war.

Dass man mit sexuell ambivalenten und provozierenden Rockstars Geld verdienen kann, blieb den Plattenfirmen nicht verborgen. 1973 fand Elektra Records, die Zeit sei reif für einen schwulen Rockstar. Für angeblich eine halbe Million Dollar nahmen sie den offen schwulen Sänger Jobriath unter Vertrag. Mit grossen Plakaten am Time-Square und Inseraten, die Jobriath als brüchige, nackte Statue zeigten, machten sie Werbung für seine erste Single «I’m A Man». Ihre Werbestrategie war, ihn als «The world’s first gay rockstar» zu verkaufen. Doch die Rechnung ging nicht auf. Zwar verkaufte sich die Single gut, und das folgende Album bekam gute Kritiken, doch «schwul» als Verkaufsargument funktionierte nicht wirklich. Oder kaufst du Madonnas Platten, weil sie «hetero» ist? Eben. Jobriath ging bald vergessen und starb 10 Jahre später. Wie so viele Gay-Stars aus den 70ern, überlebte er die 80er nicht.

Elton John machte es geschickter. Er kleidete sich zwar genau exzentrisch wie Jobriath und alle Glam-Rocker seiner Zeit, doch er nahm das Wort «schwul» nicht in den Mund — zumindest nicht öffentlich. Elton John wurde zum Superstar. Er lebte in den 70ties zwar in einer Beziehung mit seinem Manager, doch er musste das nicht aktiv verstecken. Er wurde von der Presse gar nicht danach gefragt. Es wurde von ihm nicht erwartet, sich zu diesem Thema zu äussern. Hätte es seiner Karriere geschadet, wenn er sich bereits damals öffentlich geoutet hätte? Vermutlich ja. Deshalb wurde darüber nicht berichtet. Wer schlachtet schon den Goldesel! (Immerhin musste er sich für die Boulevard-Presse nicht mit Alibi-Frauen ablichten lassen.)

Die Texte zu seinen Songs schrieb Elton John nicht selbst, sondern sein musikalischer Partner Bernie Taupin, ein heterosexueller Mann. Taupins Sensibilität ist es zu verdanken, dass in Eltons Songs schwule Themen trotzdem angedeutet wurden. «All The Nasties» ab dem Album «Madman Across the Water» von 1971 behandelt die Frage, wie es die Leute aufnehmen würden, wenn er sich outen würde.

If it came to pass
That they should ask
What could I tell them?
Would they criticize
Behind my back
Maybe I should let them

«All The Nasties», Elton John, 1975, Text: Bernie Taupin

In seiner Autobiographie sagt Elton dazu: «Es schien niemand zu begreifen, worüber ich da eigentlich sang». 1976 erzählte er bei einem Interview mit dem Magazin Rolling Stone, dass er auch auf Männer steht. Doch das sorgte für wenig Aufregung. Die Welt staunte aber, als er 1984 seine Tontechnikerin Renate heiratet. Die Ehe dauerte zwar nur vier Jahre, doch danach ist Elton John «geheilt» und seither lebt er offen schwul. 2005 heiratet er sogar seinen Partner David Furnish, und ist heute wohl der berühmteste Schwule der Welt.

Freddie Mercury von Queen ging es ähnlich wie Elton John. Offensichtlich schwul, doch kein Thema für die Öffentlichkeit. Er war der schwule Frontmann einer heterosexuellen Band. Freddies Homosexualität war etwas, das sein Privatleben betraf, nicht sein Bühnenleben. Doch sein schwules Leben genoss er heimlich in vollen Zügen. Erst in den 80er-Jahren hatte Freddies Homosexualität Einfluss auf den Auftritt von Queen und sein Solo-Werk. Mehr zu Freddies Coming out kurz vor seinem Tod im 4. Teil von 100 Jahre QueerPop — die 80er Jahre.


 

Lesben und die Frauenbewegung

So wie sich schwule Musiker in den 70er-Jahren hinter ausgeflippter Exzentrik versteckten, und das als neue Männlichkeit verkauften, die alle Männer angeht, versteckten sich viel lesbische Musikerinnen hinter der Frauenbewegung. Sie setzten sich für Frauenrechte ein und ignorierten lange, dass diese mit den Lesbenrechten nicht unbedingt deckungsgleich sind.

Janis Ian war 15-jährig, als sie ihren ersten selbst komponierten Song veröffentlichte. In «Society’s Child» (1966) behandelte sie ein gesellschaftlich brisantes Thema. Es ging um eine gemischtrassige Beziehung. Hassbriefe und Morddrohungen folgten — zu viel für den Teenager. Sie zog sich vorübergehend aus dem Musikbusiness zurück. Mit 21 schrieb sie die Songs «Jesse» und «Stars», die so gut waren, dass sie 1974 einen Plattenvertrag bei CBS erhielt. Bis 1980 brachte sie 10 Alben heraus, tourte rund um die Welt und wurde 1976 mit einem Grammy ausgezeichnet. Sie war ein Star in den 70er-Jahren. Einer ihrer grössten Hits war «At Seventeen» den sie 1975 auf ihrem Album «Between The Lines» veröffentlichte. Sie singt davon, wie sie als 17-Jährige merkte, dass sie anders ist als die anderen Mädchen. Doch dass dieses Anderssein lesbisch bedeutet, wagte sie nicht zu sagen.

Ihr Leben nahm eine unerwartete Wendung in die falsche Richtung: 1983 wollte sie eine Familie gründen und heiratet einen Mann. Sie nahm keine neuen Platten auf und auch neue Songs schrieb sie nicht mehr. Sie lebte von den Tantiemen ihrer alten Hits. Die Ehe endete allerdings bald dramatisch und kinderlos. Zudem haute ihr Buchhalter mit ihrem gesamten Vermögen ab. Ihr blieben nur noch ein paar wenige Bühnenkleider, zwei Gitarren und 1,3 Millionen Dollar Schulden bei den Finanzbehörden. Auch war sie gesundheitlich so angeschlagen, dass sie nicht mehr arbeiten konnte. Sie zog sich zurück, nach Nashville, wo sie ihre spätere Lebensgefährtin Patricia Snyder kennen lernte. Diese Liebe wurde zu einem weiteren Wendepunkt in ihrem Leben. Sie begann wieder Songs zu schreiben, gab Konzerte und gründete ihr eigenes Plattenlabel. 1993 erschien ihr Comeback Album «Breaking Silence» und Janis Ian machte gleichzeitig ihr öffentliches Coming out als Lesbe.

Andere Frauen haben schon früher begriffen, dass es im von Männern dominierten Musikbusiness besser ist ein eigenes Label zu gründen. Eine Vorreiterin der Woman’s Music war die Singer-Songwriterin Cris Williamson. 1973 schwadronierte sie in einem Radio-Interview, dass ein Plattenlabel, das sich an lesbischen Frauen richtet, eine gute Idee wäre. Am nächsten Tag gründete sie zusammen mit den Musikerinnen Meg Christian, Tret Fure und anderen lesbischen Frauen «Olivia Records». Sie wollten damit eine separate lesbisch-feministische Bewegung gründen, um so auf die Diskriminierung von Frauen in der Gay-Rights-Bewegung und auf die Heteronormativität in der Frauenrechtsbewegung reagieren. Tatsächlich wurden die beiden Alben von Cris Williamson recht erfolgreich. Wegen ihrem musikalischen Talent und der Vernetzung mit anderen Künstlerinnen wird Williamson von der LGBT-Community bis heute für ihr künstlerisches und politisches Wirken gefeiert.

Kultstatus in lesbisch-feministischen Kreisen genoss die Frauenband Lavender Jane, die von der Musikerin Alix Dobkin gegründet wurde. In den 70er-Jahren machten sie Platten von Lesben für Lesben und nahmen dabei kein Blatt vor den Mund. Ihre Alben hatten Titel wie «Lavender Jane Loves Women» oder «Living with Lesbians». Alix sang über die Liebe zu Frauen, feierte die Lesbengemeinschaft oder erzählte von ihren Erfahrungen mit dem Coming out, wie im Song «Talking Lesbian»: Why you got to ride on the lesbian train / ‘Cuz if you wait for the man to straighten out your head / You’ll all be a waiting and then you’ll all be dead and gone to heaven / All alone, all those nice a women just passed you by. Natürlich war die Musik selbstgemacht, genau so wie ihre T-Shirts mit feministischen Parolen. Bei den Herren in der Chef-Etage fand sie mit ihren Texten kein Gehör. Kein Major Label hätte so eine Band damals unter Vertrag genommen


 

Wenn Frauen rocken

Natürlich lässt es sich als musizierende Frau bequem in der queer-feministischen Bubble leben. Aber was ist, wenn man der Meinung ist, genauso gut wie die Männer der Zunft zu sein und den gleichen Respekt verdient zu haben, in einer Zeit, als in der Rockmusik die Männer den Ton angaben und den Lead nicht abgeben wollten? Dann wird es schwierig.

June Millington ist grad 13 geworden, als sie 1961 mit ihrer Familie aus den Philippinen nach Nord Kalifornien kam. Für ein schüchternes Mädchen, das gemischtrassig und -kulturell aufgewachsen ist, das auf einem Ort taub ist und auch noch queer, schien eine Karriere als Rockmusikern ausgeschlossen. Doch war es wohl gerade der Lärm der elektrischen Gitarre, die June mehr Selbstbewusste sein gaben und ihr den Strom gaben, es allen zu zeigen. Mit ihrer Schwester Jean am Bass und zwei anderen gründet sie mit 17 die Frauenrockband Svelts, die sie später in Wild Honey umtauften. Sie waren gut, sehr gut sogar. Doch das grösste Kompliment, dass sie bekamen, war: not bad for chicks. «Machst du Witze?» fraget sich June. Sie saget in einem Interview: «Dieser sexistische Abwertung mass ich nicht viel Bedeutung zu, doch wir wussten, dass wir sie überzeugt hatten. In diesem Moment wussten wir, dass wir sie für uns gewonnen hatten.» Trotzdem, die mangelnde Anerkennung führte zur Auflösung der Band. Doch an ihrem letzten Konzert war ein Mann im Publikum, der auf der Suche war nach einer Frauenband und der das Potential erkannte. Der Produzent Richard Perry nahm sie für Warner Bros. Records unter Vertrag und sie nannten sich neu Fanny. Funny heisst im Slang auch Vagina, doch das war nicht ihre Absicht, der Bandname sollte einfach weiblich klingen. Er produziert ihre ersten drei Album, die sich auch verkauften und gute Kritiken erhielten. Zudem konnte sie auf Tournee als Vorband von Acts wie Slade, Jethro Tull und Humble Pie. Sie wurden auch gerne als Session-Musikerinnen gebucht. So spielen sie beispielsweise auf Barbra Streisands Album «Barbra Joan Streisand» (1971). June verliess die Band1973, als das Plattenlabel einen Imagewechsel verlangten. 2 Jahre später löste sich die ganze Band auf und ging einfach vergassen. Eine weiter Ungerechtigkeit die weibliche Musikerinnen oft erlebten. Ist doch heute klar, dass sie Wegbereiterinnen waren für später erfolgreiche All-Female-Rockbands wie The Runaways, The Go-Go’s und The Bangles. June Millington zog nach New York, wo sie mit ihrer Freundin Jacqueline ‹Jackie› Robbins Musik machte, eine neue Band namens Smiles gründete und auch mit Cris Williamson (siehe oben) zusammenarbeitet. Als Jackie sie für Cris verliess, zog June nach San Francisco, wo sie ihr Label Fabulous Records gründete, auf dem sie Anfangs der 80er-Jahre mehrere Alben herausbrachte. Mit ihrer neuen Partnerin Ann F. Hackler gründete sie 1986 das «Institute for the Musical Arts (IMA)», mit dem sie Frauen und Mädchen in der Musikindustrie unterstützen. Erst heute bekommen Fanny und June Millington die verdiente Anerkennung. Auch dank einem Dokumentarfilm über sie («Fanny – The Right To Rock»). June erklärt sich das so: «Es gibt die ganze Bewegung, die ich einfach feministisch nenne, weil ich eine Feministin bin. Ich denke, die Aufklärung junger Mädchen und Frauen über das, was vorher war, hat begonnen, und ich denke, dass das Wissen von Fanny ein Teil davon ist.»

 


 

Gay Country

Auch schwule Musiker gründeten ihre eigenen Labels um Platten zu veröffentlichen, in denen sie die Themen ansprechen konnten, die ihnen eine kommerzielle Plattenfirma schlicht verweigert hätte. Patrick Haggerty war so ein Pionier. Er nahm 1973 mit seiner Band das legendäre Album «Lavender Country» auf. Patrick erzählt: «Ich war in den frühen 70ern ein ziemlich rabiater schwuler Aktivist in Seattle. Damals habe ich ein bisschen in Cafés gesungen und einige Songs geschrieben. Ich habe Musiker*innen gefunden, mit ihnen geprobt und das Album aufgenommen. Das Geld dafür haben wir in der Gay-Community gesammelt. 1000 Exemplare vom Album haben wir gepresst und alle verkauft! Als Band blieben wir drei Jahre zusammen und spielten an Prides und anderen Gay-Events.» Einer der bekanntesten Songs auf dem Album trägt den provokativen Titel «Crying These Cocksucking Tears». Aber Patrick Haggerty hält fest: «Der Songtitel ist natürlich sehr kontrovers, aber um Sex geht es darin gar nicht. Es geht um die starren Sexualrollen, für die Männer erzogen wurden, und wie diese Rolle Frauen und auch uns Männer unterdrückt, und dass diese verschwinden sollten. Es ist ein ziemlich politisches Lied.» Ein wunderbares Video über die Geschichte von «Lavender Country» findest du hier.

 

Ebenfalls im Country und Folk zuhause war der Singer-Songwriter Steven Grossman. Sein Album «Caravan Tonight» von 1974 gilt, wie «Lavender Country» auch, als erstes, das sich schwulen Themen widmet und sich als politisches Statement für Homorechte verstand. Im Gegensatz zu Patrick Haggerty von Lavender Country, der das Album unabhängig produzierte, hatte Steven Grossmann einen Vertrag mit einem Major Label (Mercury Records). Doch das Label hätte sich besser an den Flop mit Jobriath erinnert. Denn das Album von Steven Grossman war kein Kassenschlager und sollte für lange Zeit sein einziges Album bleiben. Erst kurz vor seinem Tod 1991 nahm er ein weiteres Album auf, das allerdings erst postum, 20 Jahre später, veröffentlicht wurde. Offen schwul zu sein zahlte sich in den 70er-Jahren für einen Musiker nicht aus.

Politisch motiviert war auch die Band Ton Stein Scherben, die 1970 von Rio Reiser in West-Berlin gegründet wurde. Doch die Revoluzzer verfolgten mit ihren Texten links-politische Ziele. Obwohl der Sänger Rio Reiser offen schwul war, machte er Homosexualität in seinen Liedern nicht zum Thema. In Deutschland war es ein Filmemacher, welcher der Schwulen- und Lesben-Bewegung, mit einem Tritt in den Hintern den richtigen Antrieb gab. Es war Rosa von Praunheims Film «Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt» von 1971, der zur Gründung der verschiedenen Homosexuellen Arbeitsgruppen im deutschsprachigen Raum führte — und nicht die Stonewall Unruhen im fernen New York.


 

Homo wird zum Pop-Thema

Die Situation, in der homosexuelle Frauen und Männer Anfangs der 70er-Jahre lebten, liess es allerdings immer noch nicht zu, dass ein Musiker oder eine Musikerin offen schwul/lesbisch hätte sein können. Doch Homosexualität wurde Thema in der populären Musik. Der Schlager fand Gefallen an dramatischen Geschichten. Bernd Clüver sang 1976 über «Mike und sein Freund», ein Liebespaar, das zusammen «Unter einem Dach» lebt und deshalb gewalttätigen, homophoben Übergriffen ausgesetzt ist.

Doch ein Happy End war damals nicht vorgesehen. Die Geschichte endet mit einem Doppelselbstmord. Zwar klagt der Schlager — der eine Cover-Version des Songs «Under One Roof» der britischen Band The Rubettes war —, die Intoleranz an und zeigte sich gar kämpferisch («Wir beweisen der Welt, daß uns’re Liebe nichts Schlechtes ist.»), doch nach wie vor musste der Schwule am Schluss sterben, wie wir das noch aus den 50er und 60er-Jahren kennen. Aus heutiger Sicht wirkt der Song kitschig und übertrieben, doch immerhin: zum ersten Mal sang ein deutscher Schlagersänger über Homosexualität. Obwohl das Lied in den deutschen Charts einstieg, durfte Bernd Clüver damit weder in der ZDF-Hitparade noch in der Sendung Disco’76 auftreten. Vielmehr musste der Sänger landauf, landab in Interviews versichern, dass er nicht «so» sei — das Ende seiner Karriere war besiegelt.

Auch andere Sänger*innen erwähnten Homosexualität, wenn auch nur in Nebensätzen. Daliah Lavi fragte «Warum tun wir, wenn wir von Liebe reden, als gäb’s nur Liebe zwischen Mann und Frau?» und antwortete: «Das bleibt immer ein Geheimnis» (1976 ). André Heller schreib 1973 im Songtext zu «Denn ich will»: «Und wenn eine Frau eine Frau liebt, soll sie sie lieben, wenn sie sie liebt». Im Chanson «Pour ne pas vivre seul (Um nicht allein zu sein)» sang Dalida 1972 «… des filles aiment des filles, et l’on voit des garçons, épouser des garçons».

«Nein, keiner hat von euch das Recht
Hier als entartet oder schlecht
Mich anzuklagen
Der Grund, daß ich so anders bin
Liegt von Natur aus in mir drin
Ich bin ein Homo, wie sie sagen»

«Wie sie sagen», Charles Aznavour, 1972, Text: Eckart Hachfeld

Charles Aznavour beschrieb in «Comme ils disent» den Alltag eines schwulen Travestie-Künstlers. Er zeichnete in seinem Chanson von 1972 den einsamen Homo realistisch, was auf Selbsterfahrung von Aznavour schliessen lässt, jedoch ohne ihn zu verurteilen. Aznavour sang das Lied übrigens auch auf Deutsch («Wie sie sagen») und Englische auf («What Makes A Man A Man»). Im Gegensatz zu «Mike und sein Freund (Under One Roof)», das einen heute eher peinlich berührt, ist «Comme ils disent» ein wunderschönes Chanson geblieben und der Text, in allen drei Sprachen, zeitlos.

Das Thema Homosexualität wurde in den 70ern in der Popmusik nicht nur mit ernsthafter Betroffenheit verarbeitet, sondern auch ziemlich humorvoll. Sonny Costa besang in «Homo Joe» eine klischeehafte Tunte, («wiegende Hüfte, geschmeidig der Gang»), doch ohne negativem Unterton, im Gegenteil. Der Held des Songs, dessen «Küsse süss, so wie im Paradies» sind, verleiten den Sänger dazu, zu jubilieren: «Mein kleiner Homo Joe, ich liebe dich so». Zudem gab es auf der Rückseite der Single noch ein homoerotischen Liebeslied («Er») mit einem besonders doofen kitschigen Text. Dass diese Single es nicht in die Charts schaffte, war klar. Doch in den deutschen Schwulen-Clubs war sie durchaus ein Hit, auch weil es sich gut dazu tanzen lässt.

Silbern warf der Mond sein Licht
Sein Körper strahlte hell in dunkler Nacht
Ich verharrte still an meinem Platz
und sah nur ihn in seiner Pracht

«Er», Sonny Costa, 1970, B-Seite der Single «Homo Joe»

Ebenfalls auf die Tanzfläche schielte die Motown-Band The Miracles. Im Song «Ain’t nobody straight in L.A.» (1975) heisst es «Homosexuality is a part of society / I guess that they need some more variety / Freedom of expression is really the thing». Sie machten sich darüber lustig, dass es in Los Angeles nur noch Gay-Bars gibt. So weit hergeholt war das gar nicht. In den 70ern schossen Gay-Clubs tatsächlich wie Pilze aus dem Boden. Es fehlte nur noch der passende Sound dazu.


 

Und dann kam Disco

In den 70ern schossen Gay-Clubs wie Pilze aus dem Boden. Es fehlte nur noch der passende Sound dazu. Disco war er der erste, massgeblich von Schwulen geprägte Musikstil, der zum weltweiten Phänomen wurde. Disco entstand in New York und San Francisco, mit Hilfe aus München, und wurde speziell für die Discotheken produziert, in denen nicht nur Schwule, sondern auch andere Radgruppen, wie die Afroamerikaner und Latinos, die Nacht durchtanzten. So war auch der Disco-Sound eine Mischung aus Gay-Camp, R’n’B-Gesang und Latin-Rhythmen. Als Mutter aller Dance-Clubs gilt das Loft in New York, das bereits 1970 vom DJ Dave Mancuso gegründet wurde. 1977 eröffnete Steve Rubell das Studio 54, das zur berühmtesten Disco der Welt wurde. Disco feierte ein neues Lebensgefühl, das eine Fortsetzung der Hippie-Bewegung der 60s war. Es ging um individuelle Freiheit, um Drogen — Marihuana und LSD bei den Hippies, Kokain und Poppers in der Disco — um Mode — damals begann der Kult um Labels und Models — und es ging um Sex. Im Fitnessraum formte der schwule Mann den perfekten Körper. Er wollte in der Disco und in der Sauna eine gute Figur machen. Die Saunas, in denen es nicht unbedingt ums Gesundschwitzen ging, wurden zum Treffpunkt für Männer auf der Suche nach schnellem Sex. Propagierten die 68er die «Freie Liebe», wurde sie in den 70ern praktiziert und zum Produkt. Gleichzeitig wurde nämlich die Pornographie zum Millionengeschäft. Es ist also nur logisch, dass 1978 aus einem Pornostar ein Discostar werden konnte.


 

Porno und Disco

Dennis Posa war den meisten Menschen unter einem Pseudonym bekannt. Für einige war er Wade Nichols, ein gut ausgestatteter Star in schwulen Pornos. Für andere war er der Polizeichef Derek Mallory in der Seifenoper «The Edge of Night». Die meisten Menschen kannten ihn aber als Dennis Parker, ein Disco-Divo, der Ende der 70er-Jahre bei Casablanca — dem Disco-Label schlechthin — unter Vertrag war. Es war der Label-Gründer Jacques Morali, der aus dem Sex-Akrobaten einen Gesangskünstler machte, was ihm aber nur bedingt gelang. Der Erfolg war mässig.

 

 

Deutlich erfolgreicher wurde Moralis Projekt Village People. Er stellte ein Band zusammen, die aussah, als käme sie direkt aus einem homoerotischen Film. Jeder stellte eine schwule Fantasiefigur dar, Bauarbeiter, Matrose, Polizist usw. Die Idee dazu hatten er und sein Geschäftsparten Henri Belolo an einem Kostümfest in einem Gay-Club. Die beiden Franzosen wollte mit diesen fünf Männern eigentlich nur das schwule Publikum ansprechen, und sie war ziemlich überrascht, als die Village People zum Mega-Hit wurden. Keiner schien zu checken, wie «schwul» die Band ist. Auf der ganzen Welt tanzen die Menschen zu «YMCA» und «Macho Man» (Video mit den Village People im Gym). Noch heute kennt jeder diese Songs. Donald Trump spielt «YMCA» sogar bei seinen Wahlkampfauftritten. Vermutlich würde sich Jacques Morali im Grab umdrehen, wenn der offen schwule Produzent von diesem «Missbrauch» erführe. Village People sangen keine explizit schwulen Texte, brauchten jedoch deren kodierte Sprache und Bilder. «I Am What I Am» heisst einer ihrer Titel, «I’m a Cruiser» tönt nach schwuler Abenteuersuche im Park, und einige Songs heissen wie die Hot Spots der US-Gay-Community, «San Francisco» (erste Single/Video), «Fire Island» und «Key West». Auch wenn sie nie lauthals ins Mikrofon «I’m Gay» sangen, lebten sie doch einen schwulen Lifestyle vor. Besonders witzig ist der Text zu «My Roomate», der auch der Titel eines Gay-Porno sein könnte. Zwei Männer in einer Wohnung, der eine ein «Dancing Fool», der nur Schwofen im Kopf hat, der andere ist genervt und gleichzeitig fasziniert.

Morali starb, wie auch Dennis Parker, viel zu jung eine Dekade später. Die Village People gibt es immer noch. Sie nehmen zwar keine neuen Songs auf, aber für einen Auftritt sind sie immer zu haben.

 

Eine spezielle Erwähnung verdient die Discoplatte — insbesondere deren Cover — «Slide Easy In …» von Rod McKuenaus dem Jahr 1977. Das Cover zeigt einen behaarten Männerarm — es ist der des Pornostars Bruno — die Hand in eine Dose Bratfett eingetaucht. Die Dose ist beschriftet mit Disco, ein Wortspiel auf die Marke Crisco, die damals von Schwulen als Gleitmittel für ihre Sexspiele benutzt wurde. In den 70ern konnte man Gleitmittel nicht einfach im Supermarkt kaufen. Aber auch was in die Rillen der Platte gepresst wurde, ist bemerkenswert.

Rod McKuen ist kein unbeschriebenes Blatt in der Geschichte des QueerPop. Ende der 50er und in den 60er-Jahren war er ein bekannter Beat-Poet, der Millionen seiner Spoken-Word-Alben verkaufte. Seine Texte behandelten schon damals Erotik — auch schwule — und er war zeitlebens LGBT-Aktivist. Doch er hasste es, schubladisiert zu werden. Er sagte: «Ich bin von Natur aus sexuell und verliebe mich in Menschen. Mit etwas Glück werden Menschen beiderlei Geschlechts hin und wieder von mir angezogen. Ich kann mir nicht vorstellen, ein Geschlecht dem anderen vorzuziehen, das ist einfach zu einschränkend. Ich kann nicht einmal ehrlich sagen, dass ich eine Präferenz habe. Ich bin aus verschiedenen Gründen von verschiedenen Menschen angezogen.» Heute würde man ihm die Etikette «pansexuell» anhängen.

 

1977 lagen die grossen Erfolge für Rod McKuen schon in der Vergangenheit. Er dachte sich: wenn ich meine Texte mit Disco unterlege, wird das bestimmt erfolgreich. Wie so viele damals, surfte er auf der Disco-Welle, und es zahlte sich aus. Das Album «Slide Easy In…» war erfolgreich und eindeutig schwul. Man hörte Männergestöhne, Hymnen an das Nachtleben und Rod hat auch noch einen Protestsong auf das Album gepackt. «Don’t Drink The Orange Juice» richtet sich gegen die damals bekannte Sängerin Anita Bryant, eine Werbebotschafterin für Orangensaft aus Florida und landesweit bekannte Anti-Gay-Rights-Aktivistin. Rod McKuen schrieb somit einen der ersten Boykott-Songs. Er forderte die Hörerschaft dazu auf, keinen Orangensaft aus Florida zu trinken, um so der homophoben Sängerin zu schaden.


 

Born This Way

Bereits zwei Jahre vor Village People erschien der erste «echte» Gay-Song im Disco-Fummel: «I Was Born This Way». Den Text schrieb Bunny Jones, eine heterosexuelle Frau und Gründerin des Label Gaiee, bereits 1971. Chris Spierer, auch er hetero, schrieb vier Jahre später die Musik dazu. Doch wie kommt es, dass zwei Heten eine Gay-Hymne komponieren? Bunny Jones, die damals einen Schönheitssalon in Harlem führte, und viele homosexuelle Angestellte hatte, sah wie Schwule unterdrückt wurden. «Schwule wurden damals stärker unterdrückt als Schwarze, Latinos oder andere Minderheiten. Wir hören von grossartigen Designern oder berühmten Friseuren, doch weiter lässt die Gesellschaft Schwule nicht gehen. Ich habe das Label Gaiee so genannt, weil ich homosexuellen Künstlern ein Label geben wollte, das sie ihr Zuhause nennen können.»

You laugh at me and you criticize’cause
I’m happy, carefree and gay – Yes, I’m gay
It ain’t a fault it’s a fact
I was born this way
Now I won’t judge you
Don’t you judge me
We’re all the way nature meant us to be
I’m happy – I’m carefree – I’m gay
I was born this way

«I Was Born This Way», Songwriters: Chris Spierer und Bunny Jones, 1975

Nachdem Bunny Jones bereits 15’000 Singles im Alleingang verkauft hatte, ging sie zu Berry Gordy, Chef von Motown Records, und bat um Unterstützung beim Vertrieb. Der fand, der Song werde ein Hit und half bei der Vermarktung, wenn auch etwas minimal. «I Was Born This Way», gesungen vom jungen Sänger Valentino, wurde zwar ein Hit in den Gay-Clubs, aber kein Charts-Hit. Zwei Jahre später nahm Motown eine weitere Version mit Carl Bean als Interpret auf. Auch diese wurde kein Superhit. Für die beiden Sänger, die sich mit der Textzeile «Yes, I’m gay» öffentlich outeten, war diese Aufnahme für ihre Karriere nicht förderlich. Valentino erinnert sich: «Wenn der Song gespielt wurde, begannen die Leute sofort zu tanzen. Doch sobald sie das eine Wort hörten, stoppten sie mit Tanzen. Es ist wirklich seltsam, wie ein kleines Wort die Leute so verärgern kann.» Der Song brach zwar keine Verkaufsrekorde, doch er hat bis heute überlebt und wurde seither von vielen weiteren schwulen Sängern gesungen. Das, was die beiden Komponisten erreichen wollten, der Gay-Community eine Hymne zu schenken, ist ihnen gelungen, auch wenn die ersten Interpreten heute vergessen sind.

Auch wenn Motown mit «I Was Born This Way» nicht den erhofften Erfolg hatten, blieb das Label doch sehr gay friendly. Das war damals alles andere als selbstverständlich. Im selben Jahr brachten sie den Song «Ain’t nobody straight in L.A.» der Band The Miracles raus. Darin sangen sie: «Homosexuality is a part of society / I guess that they need some more variety / Freedom of expression is really the thing».

Ebenfalls 1975 nahm Motown die Vokal-Gruppe The Dynamic Superiors unter Vertrag. Die fünf Männer waren bereits seit 1961 zusammen und Motown zeigte sich mit dieser Entscheidung sehr mutig, denn ihr Frontsänger Tony Washington war offen schwul. Er trug Make-up und kleidet sich so, dass es offensichtlich war, dass er schwul ist. So war auch das Cover ihres Albums «Pure Pleasure» (1975) ziemlich gay. Es zeigt nämlich zwei behaarte Männerbeine in der Badewanne, über den Knien Hände mit rot lackierten Fingernägeln. Zwar behauptete Tony, er sei nicht das Model gewesen, aber was soll’s, es repräsentierte ihn jedenfalls treffen. Dieses Gender-Bending machte er auch bei seinen Live-Auftritten. Er war bekannt dafür, dass, wenn sie den Song «Me and Mrs Jones» sangen, Tony aus der Mistress einen Mister machte. Tony stand zu sich. Passend dazu der Song «Nobody’s Gonna Change Me» in der Playlist am Schluss des Artikels.

 


Von der Drag- zur Disco-Queen

Mit dem Hit «You Make Me Feel (Mighty Real)» (1978) wurde Sylvester zur «Queen of Disco». Den Titel musste er sich allerdings mit Donna Summer und Gloria Gaynor teilen. Auch in der Schweizer Hitparade kam der androgyne Sänger aus San Francisco bis auf den 6. Platz. Sylvester James, wie er mit vollem Namen heisst, begann seine Karriere in der Drag- und Gesangsgruppe The Cockettes. Bald konnte er mit seiner ungewöhnlichen Falsett-Stimme als Solosänger auf sich aufmerksam machen. Seine Background-Sängerinnen im Studio und bei seinen extravaganten Bühnenshows waren Izora Rhodes und Martha Wash, die später als The Weather Girls einen Welthit landete mit «It’s Raining Men». Sylvester arbeitet auch mit einer weiteren Legende der Gay-Disco zusammen, dem Musiker und Produzenten Patrick Cowley. Sie begegneten sich erstmals — nicht überraschend — in einer Disco in San Francisco. Cowley spielte bei den Aufnahmen von «You Make Me Feel (Mighty Real)» den Synthesizer, begleitet Sylvester bei Konzerten und zusammen schrieben sie den Hit «Do Ya Wanna Funk» (1982). Cowley machte auch den sehr maskulinen Paul Parker zum Disco-Divo und schrieb für ihn den Hit «Right On Target» (1982). Paul Parker wurde damals oft verwechselt mit einem anderen, sehr männlichen Star: Al Parker. Doch Al hatte mit Singen nichts am Hut, er war damals ein Star in Gay-Pornos und gilt heute als Legende. Paul Parker allerdings ging vergessen, denn ohne Cowley konnte er seine Karriere nicht am laufen halten. Cowley und Silvester starben in den 80er-Jahren an den Folgen von Aids. Patrick Cowley gilt heute als Pionier, der mit seinem neuartigen elektronischen Sound Wegbereiter für Techno war, der Electronic Dance Music (EDM), wie wir sie heute nennen. Und Sylvesters Stimme wird auch nie vergessen werden.

 


Euro-Disco

Disco war aber nicht nur ein amerikanisches Phänomen. Gleichzeit wurde auch in Europa Disco-Sound erfunden. Als Pionier gilt der Süd-Tiroler Giorgio Moroder der von München aus mit Donna Summers «I Feel Love» (1977) — wie Patrick Cowley — den Grundstein zu Techno legte. Auch in Italien passierte viel. 1978 trafen sich Claudio Simonetti und Giancarlo Meo in der soeben neu eröffnete Gay-Disco Easy Going in Rom. Da verkehrten aber nicht nur Schwule, sondern auch der Jet Set. Angeblich tanzte das Bond-Girl aus Bern, Ursi Andres, dort durch die Nacht. Claudio Simonetti, der bisher Prog-Rock macht und berühmt war für die Filmmusik zu Horror-Movies wie die Kult-Klassiker «Susperia» und «Dawn of the Dead», war begeistert vom Sound der in dieser Disco zu hören war und wollt das auch machen. Sie wählten für ihr Projekt den Namen dieser Discotheke Easy Going und das Plattencover ihrer ersten Veröffentlichung zierte ein Deko-Bild aus dem Club, darauf sind zwei «kämpfende» (;-) Männer zu sehen. Auch die Texte von Meo waren gespickt mit «schwulen» Sachen («A Gay Time Latin Lover», «I Strip You»). Ob sie das wirklich ernste meinten oder sich nur anbiederte, ist nicht bekannt. Aber richtig gewählt. Bereits ihre erste Single «Baby, I Love you» wurde ein Hit und in den berühmten Discos Loft und Studio 54 gespielt. Simonetti und Mori gründete das Label Banana Records und hatte weiter Erfolge mit Kasso und Vivien Vee. Dieser Sound wurde jetzt Italo-Disco genannt, ein Sound der in den 80ern die Chart eroberte und ein Stilrichtung blieb, die bis heute Bestand hat.


 

Disco wird für tod erklärt

Begann Disco als Plätschern in der Subkultur, das den Rausch verschiedener Randgruppen bei ihren Partys begleitete, wuchs die Discomusik bald zur Welle an, welche die ganze Welt überschwemmte. Der Film «Saturday Night Fever» (1977) mit der Musik von den Bee Gees wurde zum Kassenschlager und der Soundtrack zum meistverkauften aller Zeiten. Disco Tanzkurse wurden bald in jedem Dorf angeboten und fast aller Sänger*innen und Bands dieser Zeit machte eine Disco-Platte. Es wurde schnell alles etwas zu viel. Mit der Disco-Welle rollte gleichzeitig auch die Gay-Welle an. Dass die beiden Entwicklungen in Zusammenhang standen, war offensichtlich. Das rief die Gegner der Gay-Rights-Bewegung auf den Plan. Sie machten Disco zum Sündenbock, der die Jugend verdirbt. Sie hatten schlicht keine besseren Argumente zur Hand gegen die eingeforderten Rechte von Homosexuellen.

Auch Rockmusiker bekamen es mit der Angst zu tun, denn ihre Platten wollte keiner mehr kaufen. Sie fanden Disco sei dumm, ihr Schlagwort wurde: «Disco sucks». Der 12. Juli 1979 wurde als «der Tag, an dem Disco starb» bekannt. Ein Rock-Radio-DJ rief zur «Disco Demolition Night» auf. In der Pause einer Sportveranstaltung verbrannten verärgerte Rockfans Discoplatten auf dem Spielfeld. Diese Aktion erhielt viel Aufmerksamkeit von den Medien. Tatsächlich gingen die Verkäufe von Discomusik daraufhin drastisch zurück — allerdings auch alle anderen Plattenverkäufe.

Der Niedergang von Disco in Amerika war nicht nur diesen Rockfans geschuldet, es waren auch ökonomische und politische Veränderungen, die ihn begünstigten. Ende der 70er-Jahre schlitterte Amerika in eine Wirtschaftskrise und der Konservative Ronald Reagan wurde zum US-Präsident gewählt. Es war auch ein Burnout dieser hedonistischen Bewegung, welche die Disco-Welle Ende der 70er-Jahre verebben liess. Einige Sozialkritiker sahen in der «Disco sucks»-Bewegung allerdings einen Angriff auf die nicht-weisse und nicht-heterosexuelle Kultur.

Nach einem Jahrzehnt des Feierns bekam die Homosexuellenbewegung plötzlich starken Gegenwind. Und bereits tauchten die ersten Gerüchte auf von einer Krankheit, die vor allem schwule Männer befällt, und die tödlich endet. Der Gegenwind machte die Homos nur stärker und Disco starb nicht wirklich. Der Sound lebte in den 80er-Jahren weiter als Hi-NRG und wurde dann zu House und Techno. Doch die tödliche Krankheit, die den Namen Aids bekam, prägte die 80er-Jahre und die Homosexuellenbewegung massgeblich und nachhaltig.

Mehr dazu im 4. Teil von «100 Jahre QueerPop — die 80er Jahre».


 

DJ LUDWIGS PLAYLIST

100 Jahre QueerPop – die 70er Jahre
Mit den Sänger*innen und Songs aus dem Artikel und vielen mehr.


 

DIE SENDUNG «PERLEN AUS LUDWIGS PLATTENKISTE»

Vom 1. November auf QueerUp Radio.
100 Jahre QueerPop – die 70er Jahre, Teil 1
Mit ein Paar Songs, die nicht auf der Spotify Playliste sind und Kommentaren von Ludwig


 

 


Dieser Artikel entstand in einer Zusammenarbeit mit bern.lgbt

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