100 Jahre QueerPop – Teil 4 – Die 80er-Jahre

Die neue Romantik der Blitz Kids, Männer die ihre weiblichen Seiten zeigten, kühler Elektro-Dance-Pop und rockende Frauen waren die guten Seiten der 80er-Jahre. Die schlechten waren die Aids-Krise, die Homophobie und unfreiwillige Outings. Die 80er-Jahre prägten DJ Ludwig, der damals voll in der Pubertät war. Sein persönlicher Rückblick auf das queere Pop-Jahrzehnt der Schulterpolster und Föhnfrisuren.

Von den 20er- bis in die 70er-Jahre habe ich bereits meinen queeren Blick auf das Musikschaffen geworfen. Zwar habe ich die Seventies als Kind miterlebt, doch die Musik, die von LGBT-Künstler*innen davor gemacht wurde, kenne ich nur vom Hörensagen. Mein Blick auf die 80er-Jahre ist da schon viel persönlicher. Schliesslich habe ich diese als Teenager und junger Mann 1:1 miterlebt – und sie haben mich geprägt.

In den 70ern wurde ich mit ABBA angefixt. Ihre Songs sind purer Mainstream, der auch meinen Eltern gefiel – wenn auch grandios und zeitlos produziert. Doch als pubertierender Junge, mit rebellischer Ader, der langsam ahnt, dass er schwul sein könnte, will man sich von den Eltern abgrenzen. Was der älteren Generation gefällt, kann nur Scheisse sein, dachte ich damals, wenn auch nicht konsequent. ABBA bin ich nämlich treu geblieben.


Den Gaydar kalibrieren

Meine Pubertät erlebte ich in einer Agglo hinter dem Wald. Via Radio und Fernseher schaute ich in die Welt auf der Suche nach Vorbildern, mit denen ich mich identifizieren konnte. Damals sagte keiner offen «ich bin schwul». Ich musste also all die Codes und Zweideutigkeiten, die auf eine mögliche Homosexualität hinweisen, zu erkennen lernen. Ich kalibrierte meinen Gaydar.

Mit Beginn der 80er-Jahre änderten sich die Bilder, die ich im TV sah. Statt Schlaghosen, Plateauschuhen und Batikhemden sah man Lederjacken, enge Jeans und Schulterpolster. Aus bunt wurde schwarz, Rauchglas und Metall statt schrille Tapeten und Flokatiteppiche. Auch für die Ohren gab es neue Töne aus dem Radio. Statt bombastischem Stadionrock hörte man dilettantischen Punkrock, statt zu Streichern überzuckertem Disco tanzte man zu kühlem elektronischen Sound. Mit den 80ern kam die No-Future-Generation. Gesellschaftsthemen wie Wirtschaftskrise, Neoliberalismus, Kalter Krieg, Atomangst, Waldsterben, Heroin und Aids prägten dieses Jahrzehnt.


Meine Helden als Teenager

Männerduos hatten in den 80er-Jahren Hochkonjunktur. Da gab es die Elektropioniere DAF aus Deutschland, die, obwohl hetero, mit Homoerotik spielten, wie im Song «Der Räuber und der Prinz». Dabei ging es ihnen vermutlich eher um Provokation als um Aufklärung. Die Kombi «Hetero am Synthi/Homo am Mik» verkörperte niemand besser als das extrem erfolgreiche britische Duo Erasure. Andy Bell, der Sänger von Erasure, war einer der wenigen, der schon zu Beginn seiner Karriere 1985 offen zu seiner Homosexualität stand. Heute leider etwas vergessen gegangen sind Into A Circle, das Gothic-Pop-Projekt der beiden hübschen Jungs Paul «Bee» Hampshire und Barry Jepson, die zusammen nur ein einziges Album herausbrachten. Und da waren natürlich auch noch Wham!, Associates und die Pet Shop Boy. Mehr über sie später.

Mein persönliches Lieblings-Duo waren Soft Cell. Als ich sie 1981 zum ersten Mal sah, in irgendeiner TV-Sendung, in der das Duo seinen ersten Hit «Tainted Love» performte, schlug mein Schwulenradar sofort aus. Der Soft Cell-Sänger Marc Almond war ein junger, schmächtiger, schwarz angezogener Mann mit einem Lidstrich um die Augen. Mein Radar schlug zwar schon in den 70ern aus, als ich die Village People sah, aber das war nur die Kompassnadel in meiner Hose. Bei Marc Almond war das anders, nicht sexuell, sondern ein Erkennen, dass ich eher wie Marc Almond bin, und nicht wie die Jungs von AC/DC, auf die damals meine Klassenkamerad*innen standen.


Soft Cell mit «Tainted Love», 1981 in Top Of The Pops


Soft Cell waren zwar nur wenige Jahre aktiv, halfen aber mit, den elektronischen Sound hitparadentauglich zu machen. Marc Almond wandte sich als Solo-Künstler vom Synthi-Pop ab und dem orchestralen Pop zu. Sein erstes Solo-Album «Vermin in Ermine» (1984) – was man mit Lumpenpack im Hermelin übersetzen kann – setzte den Ton seiner zukünftigen Karriere, die bis heute andauert. Was hab ich dieses Album damals geliebt! Marc Almond sah den Glamour in der Gosse. In seinen Songs sind Aussenseiter die Helden: Huren, Stricher, Matrosen, Selbstmörder und Kriminelle. Doch Almond war kein Gay-Aktivist. Er wollte kein «schwuler Sänger» sein, sondern einfach nur Sänger. Er findet nicht, dass ein Sänger eine politische Botschaft haben muss.

Ganz anders sahen das Bronski Beat. Das britische Trio verfolgte eine schwule Agenda, als sie 1984 die Single «Smalltown Boy» raus brachten. Ihr Video zum Song zeigte deutlich was sie wollten: Schwule sichtbar machen und sich für deren Rechte einsetzen. Auch in ihrer nächsten Single «Why?» zogen sie klar Stellung gegen Homophobie.

You in your false securities
Tear up my life
Condemning me
Name me an illness
Call me a sin
Never feel guilty
Never give in
Tell me why?

«Why?», Bronski Beat, 1984

Der Sänger von Bronski Beat, Jimmy Somerville mit seiner aussergewöhnlichen Falsettstimme, gründete nach Bronski Beat das Duo The Communards und machte später als Solokünstler weiter. Auch wenn er den grossen Erfolg von «Smalltown Boy» nicht wiederholen konnte, blieb er doch musikalisch und homopolitisch aktiv.

Eher Homo-Sex-Aktivisten waren Frankie Goes To Hollywood, die Band aus Liverpool mit den beiden schwulen Frontmännern Holly Johnson und Paul Rutherford. Ihren Erfolg in den 80ern hatten sie dem Produzenten Trevor Horn zu verdanken. Über Horn wird gesagt, er habe die Achtzigerjahre erfunden. Auf sein Konto gehen Erfolge wie das Album «The Lexicon of Love» von ABC, die Hitsingle «Video Killed the Radio Star» von den Buggles und «Slave to the Rhythm» von Grace Jones. Als Frankie Goes To Hollywood 1983 den Song «Relax» veröffentlichten, war das ein Skandal, vermutlich eine kalkulierter. Der Text und insbesondere das Video, das in einem Sex-Club spielte, waren dermassen homoerotisch aufgeladen, dass einige Radio- und TV-Stationen sich weigerten, den Song zu spielen. Trotzdem wurde «Relax» ein Mega-Hit. Auch dieser Band war nur eine kurzes Leben beschieden. Holly Johnson macht solo weiter und das erfolgreich. 1993 machte Holly Johnson, der aus seiner Homosexualität nie ein Geheimnis machte, öffentlich, dass er HIV-positiv ist. Er gehört zu den Langzeit-Überlebenden der Aids-Krise und ist heute vor allem als Maler tätig.


Die Aids-Krise

Die Aids-Krise nicht überlebt hat Freddie Mercury. Der Sänger der Band Queen, die bereits in den 70ern grosse Erfolge feierten, und im folgenden Jahrzehnt nicht minder erfolgreich waren, soll sich Mitte der 80er mit dem Virus angesteckt haben. Doch wie seine Homosexualität hielt er auch das geheim. Das er schwul sein muss, wurde in den 80er deutlich, zumindest wenn man den Gaydar eingeschaltet hat. Trug Freddie in den Seventies noch wallenden Kleider und wallendes Haar, stylte er sich in den Eighties wie ein schwuler Pornostar: fetter Schnauz, enge Jeans und eine Lederjacke über nackter behaarte Brust. Zudem brachte er seine heterosexuellen Bandkollegen dazu, sich für das Video «I Want to Break Free» (1984) in Drag zu zeigen. In seinem Solo-Werk, das er in den 80ern neben Queen verfolgte, wurde sein «schwuler» Geschmack sichtbarer. Er machte dancefloor-orientierte Songs wie «Living on My Own» (1985) und arbeitet mit der Operndiva Montserrat Caballé zusammen. Ende der 80er wurde deutlich, dass Freddie krank ist. Das ganze Queen-Album «Innuendo» von 1991 enthielt Andeutungen auf seinen nahen Tod, und dass er trotzdem weiter macht («The Show must go on», «I’m Going Slightly Mad»). Im Video zum Song «These Are The Days Of Our Lives» zeigte er sich von der Krankheit so gezeichnet, dass die Presse das nicht länger ignorieren konnte und sich in Spekulationen über seinen  Gesundheitszustand und seine Sexualität erging. Am 23. November 1991 schuf Freddie Mercury mit einer Pressemitteilung Klarheit und schrieb, dass er an Aids erkrankt ist. Tags darauf ist er im Alter von 45 Jahren gestorben. Der Schock und die Trauer waren gross.


Das Video mit Queen in Drag, inkl. Hommage an den schwulen Balletttänzer Vaslav Nijinsky als Faun. «I Want to Break Free», 1984


Ich hatte mein Coming Out, als die Presse reisserisch von einer «Schwulen-Seuche» schrieb. Viele glaubten damals, dass wenn man homosexuell ist, automatisch auch Aids hat. Es war der deutsche Regisseur und Gay-Aktivist Rosa von Praunheim, der schon in den 70ern der Schwulenbewegung mit seinem Film «Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt» Antrieb gab, der auch in den 80ern die Aids-Situation auf den Punkt brachte mit seinem Film «Ein Virus kennt keine Moral». Aids zerstörte damals viele Leben. Ich sah das nicht nur in den Medien, sondern erlebte es auch in meinem Umfeld.

Freddie Mercurys Tod Anfangs der 90er brachte einen Wandel im Umgang mit der Krankheit. Aus der Stigmatisierung entwickelte sich langsam Solidarität. Doch Freddie war bei weitem nicht der einzige Musiker, der an Aids gestorben ist, allerdings der berühmteste. Der Elektro-Pionier Patrick Cowley starb 1982, kurz nachdem er mit «Menergy» seinen ersten Hit landete und damit die Gay-Discos eroberte. 1988 folgte ihm die Drag-Disco-Diva Sylvester, mit der Cowley den Hit «Do You Wanna Funk» (1982) schrieb und produzierte. (Mehr über Cowley und Sylvester hier). 1985 starb Ricky Wilson, der Bassist der queeren New-Wave-Party-Band The B-52’s. Daran wäre die Band fast zerbrochen, denn keiner wusste, dass Ricky krank war, nicht mal seine Schwester Cindy, eine der beiden Sängerinnen. Ricky zog sich zum Sterben zurück, weil Aids damals stark stigmatisiert wurde. Keith Strickland, der Gitarrist von B-52’s erzählte: «Nach dem Tod von Ricky dachten wir, mit der Band sei das jetzt vorbei. Wir konnten uns nicht vorstellen, ohne ihn weiter zu machen.» Doch vier Jahre später haben Keith, Kate, Cindy und Fred wieder zusammengefunden und ihren grössten Hit geschrieben: «Love Shack».

Übrigens. Aus dem gleichen Kaff wie The B-52’s kam auch die Band R.E.M., nämlich aus Athens in Georgia. Die Band fand 1980 im Collage zusammen und wurde in den 80er- und 90er-Jahren zu einer der erfolgreichsten Band des Alternativ-Rocks. Ihr Fontmann war der queere Künstler Michael Stipe, der sich allerdings stets weigerte ein – wie er es nennt– heteronormativs Coming-out zu machen. Labeling war ihm zuwider. So wenig wie er sich sexuell definieren lassen wollte, so divers war er künstlerisch. Nicht nur Sänger und Songwriter, Stipe war auch Filmproduzent und Fotograf. Zusammen mit der B-52’s-Sängerin Kate Pierson nahm er 1991 den Song «Shiny Happy People» auf. Auch wenn der Song ironisch gemeint ist und beide die Aids-Krise hautnah miterlebt hatten, also wussten, dass nicht alles shiny und happy ist, sind sie heute doch glückliche Leute. Micheal Stipe lebt mit seinem Lebenspartner, dem Fotografen Thomas Dozol, in Berlin und Kate Pierson führt mit ihrer Ehefrau mehrere Motels in Amerika (www.lazymeadow.com).


Ein persönlicher Schock war für mich der Tod von Klaus Nomi. Auch weil ich erst Monate nach seinem Ableben davon erfuhr. Es gab noch kein Internet, das News schnell verbreitet und eine lokale Tageszeitung berichtet damals nicht über Aids-Opfer in der New Yorker Subkultur. Als Klaus Nomis erstes Album den Weg in meine Plattensammlung fand, war das eine Offenbarung, als ob ein Ausserirdischer gelandet wäre. Sein futuristisches Styling mit Elementen aus Kabuki, Kubismus und Fritz Langs «Metropolis», seine ungewohnte Stimme, ein Kontertenor, seine Musik, eine Mischung aus Oper, Pop und New Wave, zogen mich magisch an. Klaus Sperber, wie Nomi bürgerlich hiess, machte in Deutschland eine Ausbildung zum Opernsänger und zum Konditor, fand jedoch keine Engagements. Ausser in Bern! Hier hatte er seinen ersten Auftritt als Opernsänger im Stadttheater. 1973 zog Klaus Nomi nach New York ins East Village, das damals das Mekka der Kreativen dieser Welt war. Dort entwickelte er seine Kunstfigur Klaus Nomi und wurde bald stadtbekannt als der singende Konditor. 1978 wurde David Bowie auf ihn aufmerksam. Der Star engagierte Klaus und Joey Arias als Backgroundsänger für seinen Auftritt in der populären Sendung «Saturday Night Live». Dieser Auftritt verhalf Klaus Nomi zu einem Plattenvertrag, der zu diesem Album führte, das mich 1981 so begeisterte. Mit diesem und dem zweiten Album «Simple Man» (1982) konnte er Erfolge in New York und Paris verbuchen, im deutschen Fernsehen auftreten und machte so pubertierende, queere Jungs wie mich zu Fans. Ich wartete geduldig und voller Vorfreude auf sein drittes Album. Erst als «Encore» herauskam, erfuhr ich, dass dieses posthum veröffentlicht wurde, dass mein Jugendidol am 6. August 1983 in New York an den Folgen von Aids gestorben ist.

Klaus Nomis Auftritt und Interview im deutschen Fernsehen, 1982

 

Man Parrish, geboren in New York, war ein Kind des Studio 54 und ein enger Freund von Klaus Nomi.  Parrish ist einer der Pioniere der Elektronischen Musik. Sein erstes Album (1982) gilt als wegweisend. Weil ich mehr über Klaus Nomis Aufenthalt in Bern herauszufinden versuche, habe ich Parrish gefragt, ob Klaus ihm von damals erzählte. «Er hat nicht viel über seine Vergangenheit gesprochen», schrieb er mir. «Wir haben über Musik und die Zukunft der Musik gesprochen, die Underground- und Kunst-Szene in New York … und natürlich über süsse Jungs!». Man Parrish hat einen Song auf Nomis ersten Album beigesteuert und hat bei einigen den Synthesizer programmiert. Klaus war mit den Produktionen seiner beiden Alben jedoch nicht zufrieden. Als Klaus schon im Spital lag, versprach Parrish, dass er ihm ein Album produzieren werde, mit dem er zufrieden sein wird. Diese Versprechen hat er jetzt, fast 40 Jahre später, eingelöst und Songs von Klaus Nomi neu abgemischt und remixed. (Erhältlich auf seiner Homepage).

Man Parrish hatte viele Erfolge als Remixer. Auf seiner Kundenliste standen Acts wie Michael Jackson, Village People, Boy George und Gloria Gaynor. 1987 konnte er sogar eine Hit in den Britischen Charts verbuchen mit seinem Projekt Man 2 Man und dem Hi-NRG-Song «Male Stripper». Man Parrish hat viele spannenden Geschichte auf Lager über diese aufregende Zeit in New York. Hier erzählt er sie.


Gender Bender

Die Aids-Krise führte dazu, dass Homosexuelle, die in den 80ern in der Öffentlichkeit standen, sich entsexualisierten. Als Boy George damals in einem Interview gefragt wurde, ob er den lieber mit Frauen oder Männern Sex habe, antwortet diese: «I would rather have a cup of tea than sex.» Rückblickend sagte Boy George in einen Interview im Guardian dazu: «Tatsächlich war mein Sexleben damals üppig. Aber ich wurde so erzogen, zu denken, das sei schmutzig und falsch und gehöre nicht an die Öffentlichkeit». Was die unglaubliche Popularität von Boy George in den 80ern ausmachte, war sein Spiel mit den Geschlechtern. Er war keine Drag Queen, kein Frauenimitator, sondern einfach sich selbst, der sich nicht darum kümmerte, ob dass jetzt männlich oder weiblich ist. Das gefiel mir als 16-Jähriger extrem gut und so versuchte auch ich mich in Make-up und non-binärer Kleidung.

«Victims» vom Culture Club 1983. Eine der wenigen Balladen von Boy Georges Culture Club.


1983 gewann ich bei einem Wettbewerb das zweite Album von Boy Georges Culture Club «Colour by Numbers». Ich erinnere mich, wie ich zu meiner Mutter in der Küche ging und sie fragte, ob sie denke, auf dem Cover des Albums sei eine Frau oder ein Mann? Meine Mutter – ganz schön clever – meinte nur, wenn du so fragst, muss es ein Mann sein. Sie war sich von mir ja schon allerlei gewöhnt, nach Klaus Nomi und meinem anderen grossen Idol aus meiner Adoleszenz, Nina Hagen, kannte sie meinen ausgefallenen Geschmack.

Blitz Kids

Im Fahrwasser von Boy George kamen aus der Underground Szene von London weiter schwule und bisexuelle Künstler in auffälligen Kleidern an die Öffentlichkeit und in die Charts, wie Steve Strange von Visage, Boy Georgs Busenfreund Marilyn, Pete Burns von Dead or Alive und der legendäre Performance Künstler Leigh Bowery. Es waren alle Blitz Kids. Steve Strange startete 1979, zusammen mit seinem WG-Partner Rusty Egan, die Partyreihe Blitz in einem etwas heruntergekommenen Weinlokal in London. Jeden Dienstag wurde der Club zum Schauplatz für Kunststudent*innen, Fashiondesigner und Musikfans die genug hatten vom schäbigen Punkrock und schwarzen Klamotten. Eine Party für junge Menschen, die zu den Verlierern des Neoliberalismus von Maggie Thatcher gehörten, die im selben Jahr zur britischen Premierministerin gewählt wurde. Hier trafen sich die Aussenseiter der Gesellschaft. Heute nennt man sie Queers. Rein durfte nur, wer so aussah, als ob er/sie tatsächlich einen ziemlichen Aufwand für das Outfit betrieb. Angesagt waren nicht Marken wie Gucci und Fiorucci, sondern eigenwillige Kreativität, bizarre Kostüme und total übertriebene Frisuren, die so viel Haarspray brauchten, dass sich ein Ozonloch bildete. Steve Strange war nicht nur Organisator der Party, sondern wachte an der Türe auch darüber, wer rein durfte und wer draussen bleiben musste. «Ich war sehr wählerisch an der Tür», erinnert sich Strange. «Aber alles, was ich wollte, war, all‘ diesen Menschen einen Zufluchtsort zu schaffen, in dem sie frei sein können, sich selbst zu sein, ohne die Gefahr von Anfeindungen von denen, die uns nicht verstanden haben. Damals war es schwer, und wenn sie wie wir gekleidet die Strasse entlang gingen, wurden sie mit ziemlicher Sicherheit verprügelt.»

Boy George und sein bester Freund Peter Robinson, der mit seinen blonden Dreadlocks als Marilyn bekannt wurde,  arbeiteten im Blitz an der Garderobe. Sie beiden staunten nicht schlecht, als eines Tages David Bowie den Club besuchte. Bowie war ihr grosses Idol! Seine Kunstfiguren Ziggy Stardust und Aladdin Sane, mit denen die Kids in den 70ern aufgewachsen sind, waren Inspiration und Grundlage für die Blitz Kids. Bowie kam in den Club weil er nach Darstellern suchte für seinen Videoclip zum Song «Ashes to Ashes» (1980). Er engagiert unter anderen Steve Strange. Das Harlekin-Kostüm, das Bowie im Video trug, war von Steve Strange abgekupfert. Dieser Auftritt öffnete Strange die Tür ins Popbusiness und brachte ihm einem Deal mit dem Plattenlabel Polydor ein. Die zweite Single seines Bandprojekts Visage «Fade to Gray» wurde 1981 zum Welthit. In Deutschland konnte sich der Song sogar ganze 7 Wochen an der Chartspitze halten. Die Presse gab dieser neuen Bewegung den Namen «New Romantic». Dazu gehörten Bands wie Spandau Ballet, Duran Duran, The Human League und Adam & The Ants.

«Fade to Grey» von Visage. Steve Strange zeigt seine besten Make-ups und Kostüme, wie er sie im Blitz Club getragen hatte.


Divine – Queen of Trash

Als uns die Briten neue Romantik schenkten, kam aus den USA Trash! Göttlicher Trash in Person von Divine! Die Drag Queen des Amerikaners Harris Glenn Milstead, die dank den Filmen des Kult-Regisseur John Waters – der sogenannten «Pop of trash» – in den 80ern zum Star wurde mit den Filmen «Polyester» und «Hairspray». Divine eroberte 1983 auch die Charts mit Hi-NRG-Hits wie «Shoot Your Shot» und «Shack It Up». Legendäre waren Divines wilden Auftritte in Diskotheken und in Fernsehsendungen. 1988 hätte Harris Glenn Milstead Durchbruch als Schauspieler im Mainstream sein können. Er bekam eine Rolle in der extrem erfolgreichen TV-Serie «Eine schrecklich nette Familie», nicht als Drag Queen, sondern als Mann. Doch kurz bevor die Dreharbeiten begannen, erlag der stark übergewichtige Schauspieler im Alter von 42 Jahren einem schweren Herzinfarkt. Doch Divine ist heute noch Kult und eine wahre Ikone des Trash-Drag.


Divine bei einem Auftritt im Deutschen Fernsehen 1983. Weil sie so wild war, musste sie hinter Gitter auftreten!


Besser kein Outing

Divine liess ihre Disco-Hits vom Amerikaner Bobby «O» Orlando produzieren. «Das ist meines Wissens eine der homophobsten Personen der ganzen Musikbranche», erzählte der schwule MTV-Moderator Steve Blame, der in den 80ern massgeblich zum Erfolg des Musiksenders beitrug in einem Interview mit dem Tagesanzeiger. Steve Blame selber musste ein paar Mal um seinen Job bangen, weil er offen schwul war. Auch wenn sich viele schwule Künstler damals mittels optischer Extravaganz outeten, so taten sie das nicht offiziell. Ein klares «ich bin schwul», brachten damals nur sehr wenige über die Lippen. «Die meisten schwiegen das Thema lange einfach tot», erzählte Steve Blame. «Besonders extrem war der Fall der Pet-Shop-Boys-Musiker Neil Tennant und Chris Lowe. Sie schwiegen nicht nur, sie liessen die ersten zwei Singles von Bobby «O» Orlando produzieren. Ein Coming-out hätte damals der Karriere geschadet.

Auch wenn Steve Blame die Pet Shop Boys durch die Blume der Feigheit beschuldigt, habe wir Neil Tennant und Chris Lowe doch auch die Comebacks der Gay-Ikonen Liza Minelli und Dusty Springfield zu verdanke. Für Minnelli produzierten sie 1989 den Hit «Losing My Mind» sowie das dazugehörige Album «Results». Mit Dusty Springfield sangen sie im Duett «What Have I Done to Deserve This?» (1987) und verhalfen ihr damit zu neuen Erfolgen. Die Pet Shop Boys waren an der Produktion ihres  Albums «Reputation» (1989) beteiligt und den beiden Single-Hits «Nothing Has Been Proved» und «In Private». Dusty war damals schon 30 Jahre im Geschäft und hatte oft gelitten als lesbische Frau im von Männer dominierten Popbusiness. Doch in den 80ern fand sie zu einer gesunden Gelassenheit, was ihre Homosexualität betrifft, und hat sie nicht mehr gross verheimlicht.

Die Pet Shop Boys waren damals nicht die einzigen, die «alte» Diven zurück in die Charts holten. Bronski Beat, bereits ohne Somerville, arbeiteten 1989 mit Eartha Kitt («Cha Cha Heels») und The Smith 1984 mit Sandy Shaw («Hands in Glows») zusammen.

Nicht nur die Pet Shop Boys verschwiegen ihre Sexualität, auch George Michael spielte erfolgreich den Hetero. Mit Wham! wurde er in den 80ern zum Star für kreischende Teenager-Mädchen, und als Solokünstler umgab er sich in den Videos mit den damals angesagten Supermodels. 2004 erzählte er in einem Interview mit dem Spiegel: «Kurz nach dem Beginn von Wham! habe ich sowohl homo- als auch heterosexuelle Erfahrungen gemacht. Ich hätte mich beinahe schon damals geoutet, aber es wurde mir buchstäblich ausgeredet.» Dass er tatsächlich schwul ist, gestand er sich erst ein, als er im Januar 1991 in Rio seinen späteren Lebensgefährten Anselmo Feleppa kennenlernte. «Von da an war es klar. Es geht nicht darum, ob du mit einem Mann oder einer Frau ins Bett gehst, sondern in wen du dich verliebst». Georges Liebesglück war von kurzer Dauer. Zu Weihnachten 91 sagte Anselmo ihm, dass er HIV-positiv ist, im März 93 starb er an den Folgen von Aids. Diese Erfahrung hat er 1996 im Songs «Jesus to a Child» verarbeitet. 1997 verschied dann auch noch Georges geliebte Mutter. Das stürzte ihn in eine schwere Depression, die er mit Drogen zu betäuben versuchte. Die ganze Geschichte mit seinem brasilianischen Lebensgefährten kannte damals niemand. Immer noch galt George Michael offiziell als heterosexuell. Das änderte sich 1998 schlagartig, wenn auch unfreiwillig. Er wurde in Los Angeles auf einer öffentlichen Toilette verhaftet wegen «unzüchtigem Verhalten». Ein gefundenes Fressen für die Presse. Rückblickend meinte George Michael zu diesem spektakulären Outing: «Das Bizarre aus heutiger Sicht ist, dass ich mir das damals vielleicht nur deshalb angetan habe, weil mein Unterbewusstsein genau so einen Skandal geplant hat. Ich war es leid, dass meine Sexualität eine Barriere bildete zwischen mir und den Medien. Aber ich habe es nicht fertig gebracht, einem Journalisten einfach zu sagen: ‹Ich bin schwul›». Auch wenn er in diesem Spiegel-Interview von 2004 zum Schluss sagte, er fühle sich verdammt wohl in seiner Haut und zum ersten Mal in seiner Karriere absolut frei, schien das nur die halbe Wahrheit zu sein. Von den Drogen konnte er die Finger nicht lassen und er wurde 2010 abermals verhaftet, diesmal, weil er unter Drogen einen Autounfall hatte und dafür sogar vier Wochen in den Knast musste. 2016 starb George Micheal im Alter von 53 Jahren in seinem Haus an Herzversagen.

Das Nicht-über-Homosexualität-Sprechen war in den 80ern der «Courant normal» bei Popstars. So nahm auch Morrissey von The Smiths nie Stellung dazu, auch wenn die Texte seiner Songs «schwul» gelesen werden können. Was bei ihm etwas überraschend ist, denn bei politischen Themen nimmt er kein Blatt vor den Mund und steht zu seiner Meinung, auch wenn diese oft etwas abwegig ist. Im seiner 2014 veröffentlichten Autobiografie schrieb er über seine erste Beziehung mit einen Mann und sagte dazu: «Unfortunately, I am not homosexual. In technical fact, I am humasexual».

Dürfen wir als Konsument*innen überhaupt von Musiker*innen verlangen, dass sie diese private Seite offenlegen? Ich hätte damals als Jugendlicher zwar gerne mehr schwule Vorbilder gehabt – den jungen Homos von heute geht es nicht anders –, aber schlussendlich dürfen Menschen, die in der Öffentlichkeit stehen, genau so ihre Geheimnisse, ihr ganz privates Leben haben, wie jede*r andere auch. Jemanden zu verurteilen, weil er oder sie sich nicht öffentlich outet, ist kontraproduktiv.


Die endliche Geschichte

Dass ein Outing schadet, erfuhr der Sänger Limahl am eigenen Leibe. Die Band Kajagoogoo suchte per Inserat einen Sänger und fand Limahl. Dieser verhalf der Band zum Durchbruch. Er arbeitete nämlich als Bedienung in einem Restaurant, als dort Nick Rhodes von Duran Duran auftauchte, der Keyboarder der damals hipsten Band der Welt. Limahl steckte ihm eine Kassette mit Songs von Kajagoogoo zu. Rhodes gefiel das und er produzierte 1983 die Single «Too Shy». Sie wurde ein Riesenhit und Kajagoogoo, insbesondere Limahl, wurden zu den neuen Lieblingen der jungen (Hetero-)Mädchen. Limahl genoss dieses Star-Sein, doch seine Bandkollegen wollten keine Boygroup sein, sondern als Musiker ernstgenommen werden. Dann gab es einen Skandal in der Presse. Ich erinnere mich noch an die Bravo-Schlagzeile: «Ist Limahl schwul?». Die britische Presse hat nämlich herausgefunden, dass Limahl mit einem Mann zusammenlebt. Später sagte Limahl dazu, es stimmt, er sei schwul und lebte zur Untermiete bei einem schwulen Freund. Aber da sei sonst nichts gelaufen. Kurz darauf wurde er von seinen Kollegen aus der Band geworfen, wegen «künstlerischen Differenzen». Doch die Aussage des Gitarristen lässt einen homophoben Hintergrund vermuten. Er sagte: «Sein Lebensstil unterscheidet sich so sehr von unserem. Wir sind ganz normale Leute, während Limahl die hellen Lichter mag.». Als Solosänger hatte Limahl zwar noch einen Hit («The Never Ending Story», 1984), doch dann wurde es still um ihn. Er versuchte zwar einige Comebacks, was jedoch nie gelang. Heute verdient er seinen Lebensunterhalt mit Auftritten an 80s-Partys steht zu seiner Homosexualität und zu seinen Schönheits-OPs.

Die 80er-Jahre waren nicht nur neonfarben, schultergepolstert und dauergewellt, wie wir sie von den 80s-Partys kennen, sie hatten auch düstere Seiten. Drogen wie Heroin, Kokain und Speed brachten viele um Verstand und Leben. Das zeigt sich in der traurigen Geschichte des Schotten Billy MacKenzie, der sich 1997 das Leben nahm. Billy MacKenzie kam 1957 in Dundee in Schottland zur Welt. Schon als Teenager reiste er um die Welt, weil er einfach weg musste aus diesem Kaff. Als er 1976 zurück nach Shottland kam, traf er in Edinburgh seinen musikalischen Partner Alan Rankine, mit dem er The Associates gründete. Rankine erinnert sich in einem Interview an ihre erste Begegnung: «Es hat sofort geklickt zwischen uns. Es war ziemlich offensichtlich, dass Bill schwul oder bisexuell war oder was auch immer, aber es war nicht Teil unseres Wortschatzes. Wir sprachen nie darüber». Stattdessen sprachen sie über Musik und machten Musik. Als erstes versuchten sie sich an einem Cover von «Boys Keep Swinging» von David Bowie (schon wieder Bowie!), das viel Beachtung fand. Noch mehr erhielt ihr erstes Album «The Affectionate Punch» (1980) – es fiel auf, weil es so frisch und neuartig war, der Zeit etwas voraus. Am meisten Eindruck machte die einzigartige, fast hysterische Stimme von Billy MacKenzie. Die Presse nannte das «New Pop». Als Meisterwerk gilt ihr drittes Album «Sulk» von 1982. Die Single daraus, «Party Fears Two», erreichte die Britischen Top Ten und wurde für The Associateszum Durchbruch.


The Associates mit «Party Fears Two» 1992 in der britischen Chartshow «Top of the Pops»


Eigentlich hätten sie jetzt durchstarten könne. Die Tournee war geplant und das Studio fürs nächste Album bereits gebucht. Doch Billy hatte keine Lust auf Konzerte und machte einen Rückzieher, lieber spielte er mit seinen geliebten Hunden. Das machte Rankine so wütend, dass er die Band verliess. Zwar machte Billy weiter Musik unter dem Namen Associates, aber sie wurde nie mehr so gut wie die, die Billy MacKenzie und Alan Rankine zusammen schufen. Ende der Achtzigerjahre arbeitet Billy mit den beiden Schweizern Dieter Meier und Boris Blank zusammen. Er schrieb den Text zum Song «The Rhythm Divine» den Shirley Bassey auf dem Yello-Album «One Second» (1987) sang. Für dieses Album schrieb und sang Billy auch den Song «Moon on Ice». Doch seine Pillensucht und seine Depressionen wurden immer schlimmer. Als dann noch seine Mutter starb, sah Billy keinen Sinn mehr im Leben und brachte es mit einer Überdosis Tabletten zu Ende. Er war 39 Jahre alt. Rückblickend meint Rankine: «Billy hatte es nicht gut gehabt, in Dundee schwul zu sein und nicht wirklich ein Coming-out zu haben. Billy konnte manchmal unglaublich tuntig sein, war aber gleichzeitig auch sehr männlich und konnte kämpfen wie ein Teufel. Bösartig sogar! Es war beängstigend. Billy war eigentlich immer angespannt, ausser wenn er mit seinen Hunden zusammen war.»


Und wo sind die Lesben?

Die Lesben waren damals genau so verschwiegen wie ihre schwulen Kollegen. Im Gegensatz zu den Männern, die ihre Homosexualität zwar nicht mündlich kundtaten, aber mit entsprechendem Auftreten ihre Queerness zeigten, fielen frauenliebende Frauen nicht mit typischem Lesben-Outfit auf. Für Musikerinnen ganz allgemein, waren die 80er gut, weil sie nicht wie ein sexy Discohäschen aussehen mussten, um Erfolg zu haben. Die Mode damals war eher zugeknöpft und kurze Haare nicht den Lesben vorbehalten. Nachdem die musizierenden Frauen in den 70ern begannen sich selbstständig zu machen, konnten sie in den 80ern auf diese Pionierarbeit aufbauen. Künstlerinnen wie Kate Bush, Annie Lennox, Debbie Harry, Grace Jones und natürlich Madonna zeigten ein Frauenbild, das eigenwillig war und sich nicht nach dem Geschmack der Männer richtete, sondern ihre Individualität betonte.

Um in den 80ern eine lesbische Musikerin zu erkennen, brauchte frau einen feinen Lesbenradar. Der schlug aus bei Joan Armatrading, die in den 80ern einige Hits hatte («Me Myself I» 1980, «Drop The Pilot» 1983). Bemerkenswert ist ihre Single «Rosie». Darin singt die Engländerin nicht über eine Frau, Rosie ist ein effeminierter Schwuler, den sie bei einem Besuch in New York sah, wie sie erzählte. Sonst erzählte Joan Armatrading nicht viel, schon gar nicht über ihr Privatleben. Dass sie tatsächlich lesbisch ist, wurde erst 2011 offensichtlich, als sie ihre Lebensgefährtin heiratete.

Tracy Chapman war genau so verschlossen, wenn es um ihr Privatleben ging. Wenn sie gefragt wurde, ob sie lesbisch sei, fragte sie zurück: «Ist das wirklich wichtig?». Den Status als Ikone der Singer-Songwriterinnen hat die Amerikanerin allein mit ihren Liedern erreicht. Schlagartig berühmt wurde sie 1988, als sie bei einem weltweit übertragenen Konzert aus dem Wembley-Stadion in London anlässlich des 70. Geburtstags von Nelson Mandela auftrat. Danach verkauft sie Millionen von Platten und gewann zahlreiche Preise, darunter 4 Grammys. Auch wenn sie ihre Homosexualität nie öffentlich kommentiert hat, gehört sie in die Riege der LGBT-Heldinnen.

Als Gianna Nannini 1979 der Durchbrunch gelang, wirkte sie wie das fleischgewordene Klischee einer Lesbe, burschikos, strubbliges Haar und eine Reibeisenstimme. Mit ihrem ersten Erfolgsalbum «California» setzte sie zudem ein feministisches Zeichen. Das Cover zeigte die Freiheitsstatue mit einem Vibrator in der Hand. Sie sang über sexuelle Befreiung und Selbstbefriedigung. Mit diesem Album und der Hitsingle «America» feierte sie zwar Erfolge im deutschsprachigen Raum, aber nicht in ihrer Heimat Italien. Dort wurde sie erst mit ihrem Album «Puzzle» und der Single «Fotoromanza» (1983) zum Star. Doch als Lesbe outete sie sich nie. 2011 sagte sie in einem Interview mit Welt.de: «Ich bin als Heterosexuelle geboren. Ich war nicht lesbisch von Geburt an. Ich sage nur, dass ich Männer sexuell erregend finde, immer noch, aber auch Frauen mag.» Heute lebt sie mir ihrer Lebensgefährtin und ihrer Tochter in London.


Gianna Nannini, 1980 mit «America» in der TV-Sendung Disco 80


Leider nie wirklich bekannt – vollkommen zu Unrecht, wie ich finde –, wurde Phranc. Sie bezeichnet sich selber als «All-American Jewish lesbian folksinger». Ihre Karriere begann sie Anfangs der 80er in der Punkszene von Los Angele, wo sie in verschieden Bands spielte. Schon damals fiel sie durch ihr androgynes Styling auf. Bald ging sie ihren Weg solo weiter und veröffentlichte 1985 das Album «Folksinger». Ich kaufte das Album damals, weil Phranc auf dem Cover so ultracool aussah mit ihrem Markenzeichen der Bürstenfrisur, Flattop, wie man es heute nennt. Es gab noch ein paar weitere Alben, das letzte kam 1998 raus, doch der grosse Durchbruch gelang ihr nie. Deshalb organisierte sie «Tupperware Home Parties». Sie präsentierte also im privaten Kreis Tupperware und nahm Bestellungen auf. Sie soll damit ziemlich erfolgreich gewesen sein. Phranc hatte aber nicht nur Einfluss auf den queeren Haushalt, sondern auch auf die Queercore-Szene.


Queercore

Queercore war eine Bewegung die Mitter der 80er-Jahre aus der Punk-Subkultur entstand, eine klassische DYS-Bewegung die LGBT-Anliegen durch Musik, Filme und Magazin (Fagzines) verbreitet. Sie schielten nicht auf den kommerziellen Erfolg und waren deshalb frei über sexuelle und geschlechtliche Identität zu singen, Homophobie und soziale Missstände anzuprangern und – wie es sich für Punks gehört –, eine freche Schnauze zu pflegen. Einer der Mitbegründer der Bewegung war der skandalträchtige Regisseur Bruce LaBruce, der in Toronto das Magazin «J.D.s» herausbrachte. In der ersten Ausgabe war ein Manifest drin unter dem Titel «Don’t be gay». Queercore wollte eine Alternative zur selbstauferlegten Ghettoisierung orthodoxer Schwuler und Lesben sein. Sie wollten keine Segregation, wie sie von der Mainstream-Gay-Community praktiziert wurde, sondern sexuelle und geschlechtsspezifische Vielfalt. Queercore verachtete die konsumorientierte Kultur. Sie wollte ihre eigene Kultur erschaffen und eine Opposition gegen die unterdrückenden religiösen Grundsätze und politischen Repression bilden. Nach diesem Manifest richten sich junge queere Menschen heute noch, auch wenn sie nicht wissen, dass es bereits vor 36 Jahren geschrieben wurde. Erst in den 90er-Jahren wurde Queercore, zusammen mit den Riot Grrrls, zur einflussreichen Musikbewegung. Mehr über die 90er und Bands aus der Queercore-Szene wie Pansy Division, Green Day und Le Tigre gibt’s im nächsten Teil der Serie «100 Jahre QueerPop».


Jayne County – Punktrans im Untergrund

Sie war Punk bevor diese Bewegung ihren Namen bekam und transgender, als das Wort noch keiner kannte: die Sängerin Jayne County, die 1947 als Wayne Rogers in Dallas geboren wurde. Dass sie anders war, wusste sie schon immer. «Ich fühlte mich niemals männlich oder was die Gesellschaft als männlich zuordnet, und ich wusste immer, dass ich nicht so bin wie alle anderen um mich herum.» Die Aussenseiterin fand in den 70er-Jahren in New York eine Heimat. Sie verkehrte nicht nur in Andy Warhols Factory sondern auch im Stonewall-In. Beim Aufstand der vor diesem Lokal passierte, und der zur Gay-Rights-Bewegung führte, hat sie mitgemacht. Jayne war Schauspielerin, Performance-Künstlerin, gründete ein Glamrock-Band und begann damals mit ihrer Transition. Diese machte sie auch zum Thema in ihren Songs («Man Enough To Be A Woman»). 1977 zog die Protopunkerin nach London, wo der Punk gerade geboren wurde. Sie spielt im legendären Punk-Film «Jubilee» (1978) von Derek Jarman mit und gründete die Band Wayne County & The Electric Chairs. Nach einem Album war schon wieder Schluss. Doch fortan trug sie auf der Bühne ihren weiblichen Namen Jayne. Ihre nächste Station war Berlin. Dort konnte sie in Rosa von Praunheims Transmusical «Stadt der verlorenen Seelen» (1983) mitspielen. Ein wahrer Kultfilm, den ich als Teenager absolut liebte und der meine Wahrnehmung von queerer Ästhetik prägte. 1986 veröffentlichte Jayne dann ihr erfolgreichstes Album «Private Oyster». In den Mainstream schaffte sie es nie – und wollte sie vermutlich auch nicht. Doch als Revolutionärin und Punk musste sie ernüchtert feststellen: «Rock’n’roll is such a fucking macho world, they don’t want people like me around.»

Ein Ausschnitt aus Rosa von Praunheims legendärem Transmusical «Stadt der verlorenen Seelen (City of lost Souls)» von 1983 mit Jayne County und Angie Stardust. Dieser Film wurde später zur Inspiration für das Musical «Hedwig and the Angry Inch» (1998)


Around The World

1980 putschte sich in der Türkei das Militär an die Macht. Viele Türken verliessen das Land, einige landeten in der Schweiz. Bald eröffneten die ersten Kebab-Buden. Eine gleich ein Haus weiter von dort, wo ich damals wohnte. Der freundliche Türke aus meiner Nachbarschaft hatte nicht nur feine Kebabs im Angebot, auch Musikkassetten gab es zu kaufen. Bei ihm erstand ich eine Kassette von Bülent Ersoy. Türkische Kunstmusik war darauf zu hören, etwas, dass für meine Ohren so komplett anders klang als alles, was ich damals sonst so hörte. Sie öffnete mir die Türen zur Welt der orientalischen Musik. Auch Bülent hat damals ihr geliebtes Land verlassen, um sich in London einer geschlechtsangleichenden Operation zu unterziehen. Bülent Ersoy war damals schon ein angesehener Star. Doch als sie in ihr Land zurück wollte, verhängte das Militär ihr ein Auftrittsverbot, wenn sie in «Frauenkleidern» auftritt. Also zog sie nach Freiburg im Breisgau und eroberte die Welt von dort aus. Sie war die erste türkische Sängerin, die 1980 im Londoner Palladium und 1983 im Madison Square Garden in New York auftreten konnte. Weitere Karrierehöhepunkte waren ihr Auftritt im Olympia in Paris mit einem 50-köpfigen Orchester, und als japanische Wissenschaftler ihre Stimme im Labor untersuchten und ihr attestierten, dass sie hundertprozentig makellos ist. Nach dem 8-jährigen Auftrittsverbot durfte sie zurück in die Türkei. Der damalige Präsident entwarf für sie sogar ein temporäres Sondergesetz, um ihr einen weiblichen Personalausweis aushändigen zu können. Es war nämlich verboten, Transfrauen einen weiblichen Ausweis zu geben. Bereits am nächsten Tag wurde das Gesetzt wieder aufgehoben. In der Türkei wird Bülent Ersoy einfach die Diva genannt. Auch wenn sie für viele queere Menschen in der Türkei ein Vorbild ist, setzte sie sich nicht unbedingt für die LGBT-Community ein. Im Gegenteil. Sie ist nationalistisch eingestellt und scheut sich nicht davor, sich vom bekanntlich homofeindlichen Staatspräsidenten Recep Erdoğan hofieren zu lassen. Eine echte Diva eben, die nur sich selbst am nächsten steht.


Bülent Ersoy 1984 in einem besonders kitschigen und faszinierend schlecht gemachten Video zum Lied «İkimizin Yerine»


In den 80ern war Cazuza in Brasilien der grösste Rockstar. Er wurde berühmt mit der Band Barão Vermelho und war offen bisexuell, engagierte sich aber nicht aktiv in der LGBT-Bewegung. 1985 wurde er positiv auf HIV getestet, worauf hin er sich von der Band trennte um solo weiterzumachen. Er wollte seinen musikalischen Ausdruck diversifizieren und mehr persönliche Freiheit. Im Gegensatz zu dem, was normalerweise passiert, wenn ein Künstler eine Band verlässt, die ihn berühmt gemacht hat, erwies sich Cazuzas Solokarriere als erfolgreicher als die seiner früheren Band. «Exagerado» (Übertrieben), «O Tempo não Pára» (Zeit hört nicht auf) und «Ideologia» (Ideologie) waren seine grössten Hits und hatten einen grosser Einfluss auf nachfolgende brasilianische Musiker. 1989 macht er seine Erkrankung publik und veröffentlichte sein letztes Album. Seine Offenheit, eine Person mit AIDS zu sein, trug dazu bei, die Wahrnehmung und Einstellung der Öffentlichkeit in Brasilien in Bezug auf Prävention und Behandlung von HIV/AIDS zu ändern. Cazuza starb am 7. Juli 1990 im Alter von 32 Jahren in Rio de Janeiro an einem durch AIDS verursachten septischen Schock.

Ein ganz besonderer Künstler war António Variações aus Portugal. Der leidenschaftliche Sammler von Trödel und gelernte Friseur eröffnete Ende der 70er-Jahre einen Unisex-Salon in Lissabons Zentrum, weil er sich erhoffte, so in Kontakt mit Menschen aus dem Musikgeschäft zu kommen. Die Rechnung ging auf. Er verpasste Musiker*innen der Stadt die damals populären New-Wave-Frisuren und tatsächlich nahm eine Plattenfirma ihn unter Vertrag. Diese wusste jedoch nicht recht, was sie mit diesem etwas schrägen Sänger anfangen sollten. António Variações war ein begabter Dilettant. Er konnte kein Musikinstrument spielen, und vom Komponieren hatte er keine Ahnung. Mit Hilfe anderer Musiker*innen, wie Pedro Ayres Magalhães und Carlos Maria Trindade, die später als Gruppe Madredeus bekannt wurden, kreierte er eine eigenwillige Mischung aus traditioneller portugiesischer Volksmusik, dem Fado, und Synthi-Pop. Dieser neuartige Sound, zusammen mit Antónios schrillem Auftreten, machte ihn bereits mit dem ersten Album «Anjo da Guarda» (1982) zum Star. Auch sein zweites «Dar & Receber» (1984) wurde ein Erfolg. Kurz nach der Veröffentlichung von «Dar & Receber» wurde er mit Symptomen einer asthmatischen Bronchitisins Krankenhaus eingeliefert. Seine Homosexualität war damals kein gut gehütetes Geheimnis, so dass sofort das Gerücht aufkam, er habe Aids. Zwei Monate später verstarb er. Die Beerdigung führte zu einigen Kontroversen, da behördlich angeordnet wurde, dass sein Sarg geschlossen bleiben musste, aufgrund von Sorgen um die öffentliche Gesundheit, die mit dem Gerücht zu tun hatten, denen zufolge er an AIDS gestorben sei. Die Familie von António Variações erkannte nicht an, dass dies die eigentliche Ursache des Todes war (auch nicht, dass er homosexuell war). Die meisten aber nahmen an, dass er eines der ersten öffentlichen Opfer der Krankheit in Portugal war.


António Variações letzter Auftritt wenige Monate vor seinem Tod. Er singt nicht nur seinen Hit «É p’ra amanhã…», sondern präsentiert auch Frisuren aus seinem Coiffeur-Salon.


Einer der grössten Stars in Spanien ist Miguel Bosé. Sein Vater war Stierkämpfer, seine Mutter eine italienische Schauspielerin und Luchino Visconti war sein Pate. Seine Familie verkehrte mit Leuten wie Pablo Picasso und Ernest Hemingway. Der Weg ins Showbiz wurde Miguel Bosé sozusagen in die Wiege gelegt. In London machte er in den 70ern eine Ausbildung zum Schauspieler und Tänzer, konzentrierte sich dann aber auf eine Karriere als Pop-Sänger. Der hübsche Miguel wurde in den 80ern zum Star der Teenager in ganz Südeuropa und Lateinamerika. Ihm blieb das Schicksal vieler Teen-Stars erspart, und er konnte auch als Erwachsener Erfolge feiern. Nicht nur als Sänger, auch als TV-Moderator und Schauspieler. In Erinnerung blieb sein Auftritt in Pedro Almodovars Film «High Heels» (1991), wo er einen Richter spielte, der nachts als Drag Queen auftrat. Spätestens da wurde klar, dass er schwul ist, auch wenn er seine Homosexualität, wie sein ganzes Privatleben, stets unter Verschluss hielt. Erst 2013 sprach er Klartext und erzählt, dass er seit Jahren in einer Beziehung mit dem Bildhauer Ignacio Palau lebt und sie vier Kinder durch Leihmutterschaft haben.


Miguel Bosés Auftritt als Drag Queen im Almodovar-Film «High Heels», 1991. Der Song ist «Un Año de Amor» von Luz Casal


Was mich die 80er-Jahre lernten

Die Adoleszenz ist prägend für das ganze Leben. Ich habe sie in den 80er-Jahren durchlebt und dank den queeren Popstars von damals zu meinem Selbst gefunden. Ich habe gelernt, dass geschlechtsspezifische Kleidung nur hinderlich ist. Besser man findet seinen ganz eigenen Stil und lässt sich von schrägen Blicken nicht verunsichern. Ich habe erkannt, dass es nichts bringt, seine Homosexualität zu verstecken, denn sie wird ohnehin erkannt. Besser man steht gleich dazu, bevor jemand anderes dich an den Pranger stellt. Wenn ich damals in meinem ausgeflippten Outfit durch die Gassen von Bern lief, habe ich oft homophobe Bemerkungen gehört. Mir half dann, wenn ich an Boy George dachte, der sich davon nie beirren liess. Weniger erbaulich war die Erfahrung, dass Sex und Tod eine so enge Beziehung haben und Drogen ziemlichen Schaden anrichten können.

In den 80ern fand ich auch meine Liebe zur Ausgehkultur. Das Tanzen in Clubs und die Besuche von Konzerten bereicherten seit damals mein Leben und führten in den 90er Jahren dazu, dass ich selbst zum DJ wurde und mit Freunden die queere Partyreihe Tolerdance gründete.

Mehr über die queeren 90er-Jahre, über House, Techno und Clubkultur, über Boybands mit heimlich schwulen Mitgliedern, über die ersten wirklich offen schwulen und lesbischen Country- und Rocksänger*innen, über Queercore und Riot Grrrl gibt’s im nächsten Teil der Serie 100 Jahre QueerPop.


 

DJ LUDWIGS PLAYLIST

100 Jahre QueerPop – die 80er Jahre
Mit den Sänger*innen und Songs aus dem Artikel und vielen mehr.


 

DIE SENDUNG «PERLEN AUS LUDWIGS PLATTENKISTE»

Vom 4. April 2021 auf QueerUp Radio.
100 Jahre QueerPop – die 80er Jahre, Teil 1
Mit Songs und Kommentaren von Ludwig

Vom 6. Juni 2021 auf QueerUp Radio.
100 Jahre QueerPop – die 80er Jahre, Teil 2
Mit Songs und Kommentaren von Ludwig


 

 


Dieser Artikel entstand in einer Zusammenarbeit mit bern.lgbt

Scroll to top