Wird die Ukraine die Siegerin des 66. Eurovision Song Contest, weil die Zuschauenden ihre Solidarität zeigen wollen? Oder wird im Mai doch einfach der beliebteste Song gewinnen? Wie politisch ist der ESC überhaupt, welche Songs haben eine Chance zu gewinnen und wer ist queer? Tolerdance-DJ und Eurovision-Fan Ludwig sucht nach Antworten.
Der ESC ist politisch (auch wenn er es nicht sein will)
Die Legende sagt, dass der Eurovision Song Contest 1956 aus einer friedenspolitischen Motivation heraus gegründet wurde. Nach dem 2. Weltkrieg, wollte man etwas erschaffen, das die Menschen in Europa verbindet. Ein Musikwettbewerb schien das Richtige zu sein. Das stimmt nicht. «Der Friedensgedanke spielte überhaupt keine Rolle», sagt der Historiker und Eurovisionsfan Dr. Dean Vuletic, der sich in den Archiven umsah, «Der Krieg war vorbei. Darum musste man sich also nicht kümmern. Es ging ausschliesslich darum, Fernseh-Technologie zu testen. Von Interesse war, ob es gelingen würde, ein Live-Event simultan in mehrere Länder zu übertragen» (Interview). Die European Broadcasting Union (EBU), die den «Grand Prix Eurovision de la Chanson» – wie er damals hiess – ins Leben rief, bestand darauf, unpolitisch zu sein. Deshalb war es für die EBU wohl auch kein Problem, dass Spanien seit 1961 dabei ist, obwohl sie bis 1975 unter der Militärdiktatur von General Franco stand, und die katastrophale Menschenrechtslage in Aserbaidschan war auch kein Hindernis, den ESC 2012 in Baku auszutragen. Doch der Überfall Putins auf die Ukraine war dann doch zu viel und Russland wurde in diesem Jahr deshalb ausgeladen, weil es «den Wettbewerb in Verruf bringen würde». Die EBU stützt sich dabei auf ihr Reglement. Obwohl sich der ESC schon immer als unpolitisch verstand, hat er dies erst 2016 in den Statuten festgelegt.
«Ansprachen und Gesten politischer Natur sind während des Contests untersagt. Dies gilt ebenso für Texte oder eine Bühnenshow, die den Wettbewerb allgemein in Misskredit bringen könnten oder Werbung für Unternehmen, Produkte und Dienstleistungen machen.»
ESC-Reglement der EBU
Trotzdem: der ESC war immer politisch, wenn auch mehr oder weniger subtil. Als 1982 Grossbritannien im Falklandkrieg war, wünschte sich Nicole «Ein bisschen Frieden» und gewann damit die Herzen der Zuschauer*innen. Als der Eiserne Vorhang zwischen Ost und West fiel, beschwor Toto Cutugno 1990 die EU-Osterweiterung herauf mit «Insieme: 1992 (Unite Europe)» – auch er gewann. Jamala holte ebenfalls den Sieg mit dem politischen Lied «1944», das von der Deportation der Krimtataren erzählte. Die ukrainische Sängerin griff 2016 zwar vordergründig ein historisches Thema auf, bezog sich aber ganz eindeutig auf die Annexion der Krim durch die Russen zwei Jahre zuvor. Es gäbe noch zahlreiche weitere Beispiele.
In diesem Jahr trägt der Eurovision Song Contest zwar das Motto The Sound of Beauty, er steht jedoch unter den Eindrücken des schrecklichen Krieges in der Ukraine, bei dem der Aggressor klar auszumachen ist. Ganz Europa zeigt jetzt Solidarität mit dem Land, nimmt die Flüchtenden generös auf und verurteilt Russland generell. Und weil sowohl Jury wie Publikum eben doch eine politische Haltung haben, und sie gerne Solidarität zeigen, wird fest damit gerechnet, dass in diesem Jahr die Ukraine den ESC gewinnen wird. Der Song spielt dabei eine untergeordnete Rolle. Der Ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat eigens die diensttauglichen jungen Männer des Kalush Orchestra vom Militärdienst befreit, damit sie in Turin ihr Lied «Stefania» vortragen können. Oleh Psiuk, der Rapper der Band sagt: «In schwierigen Zeiten für unser Land werden wir unsere Präsenz in der ganzen Welt bekannt machen. Wir sind also bereit, die Ukraine in ganz Europa zu vertreten.» Europa wird ihnen antworten: Wir sind bei euch! Doch werden sie tatsächlich «Stefania» zum besten Song 2022 wählen? Die Buchmacher meinen ja, die Fans eher nein. Wie es herauskommt, kannst du am 14. Mai sehen, wenn das grosse Finale des Eurovision Song Contests aus Turin auf die Bildschirme in Europas Wohnzimmer übertragen wird.
Song Contest oder Solidarity Contest?
«Stefania» vom Kalush Orchestra wird höchstwahrscheinlich der ESC-Sieger 2022 werden. Aber nicht etwa, weil das Lied mit Hip Hop und volkstümlichem Elementen der beste Song ist, sondern aus Solidarität mit der Ukraine. Ist das gerecht? Darf der Songwettbewerb zum Solidaritätswettbewerb werden? Nun, wirklich aussergewöhnlich wäre das nicht. Sympathie und Antipathie waren für das Publikum schon immer starke Indikatoren. Ginge es rein um Qualität, müsste Italien gewinnen. «Brividi» ist mit Abstand der beste Song am Wettbewerb. Wenn Mahmood und Blanco auf der Bühne vor Liebe erzittern (brividi), erzeugt das auch bei den Zuschauenden ein Schaudern. Für Italien wäre das der zweite Sieg in Folge und für Mahmood, nach seinem 2. Platz am ESC 2019 endlich der oberste Platz. Politisch engagiert wie Mahmood ist, hat er bestimmt nichts gegen Solidarität mit der Ukraine einzuwenden und wird den verhinderten Sieg nicht persönlich nehmen. Nötig hat Mahmood ihn ohnehin nicht, denn bereits nach seinem Erfolg vor 3 Jahren wurde Mahmood zum Star weit über Italien hinaus und wird seinen Status am 14. Mai am grossen Finale in seinem Heimatland nur bestätigen.
Musikalische Diversität am ESC
Dass sich der ESC musikalisch entwickelt hat, und inzwischen sehr divers ist, zeigen exemplarisch die ersten fünf Plätze des vergangenen Jahres. Platz 1 gab es für italienischen Glamrock. Måneskin wurde damit zu einer weltweit erfolgreichen Rockband. Das klassische französisches Chanson «Voilà» von Barbrar Pravi wurde Zweiter, das Schweizer Stimmwunder Gjon’s Tears holte den 3. Platz mit Drama-Pop. Platz 4 gab es für nerdigen Elektro-Pop aus Island und der Ethno-Techno von Go_A landete überraschend auf dem 5. Platz.
Auch in diesem Jahr wird es musikalisch bunt und vielfältig. Drei Länder versuchen mit Rockmusik an den Erfolg von Måneskin anzuknüpfen. Altherren-Rock bietet das Intelligent Music Project aus Bulgarien. Wo im Song «Intention» allerdings die Intelligenz steckt, wird nicht ganz ersichtlich. Frauenpower bringt das Trio REDDI aus Dänemark. Der 80er-Jahre-Rocksong «The Show» wirkt jedoch etwas altmodisch. Am gefälligsten ist der Rocksong «Jezebel» von The Rasmus aus Finnland. Die Band versucht ihre fast 30-jährige Karriere mit einen guten Auftritt am ESC wieder zu beleben und vielleicht sogar zu krönen.
Dance-Pop gehört zum ESC wie die Spiegelkugel zur Disco. «Halo» vom erfolgreichen österreichischen DJ und Produzenten LUM!X ist wie geschaffen für die Teenager-Disco. Unterstützt wird der 19-jährige DJ von der stimmgewaltigen 18-jährigen Sängerin Pia Maria aus dem Tirol. Ähnlich wie die Österreicher, allerdings nur halb so gut, ist «We Are Domini» von Lights Off aus Tschechien. Die Norweger Subwoolfer fallen mit gelben Wolfsmasken und einprägsamen Dancemoves auf. «Give That Wolf A Banana» heisst ihr Song mit dem Nonsens-Text. Aber er ist verdammt eingängig und gehört deswegen zu den Favoriten. Ebenfalls ein guter Platz zugetraut wird Chanel, die mit «SloMo» für Spanien an den Start geht. Sie zieht alle Latin-Dancepop-Register und wirft mit Worten um sich wie «boom boom, zoom zoom, drives you loco, take a video, watch it slo mo mo mo mo …». Dazu wird das Haar geschmissen, die Hüfte geschwungen und im Regen getanzt. Dance-Pop mit Ethno-Elementen kommen aus Albanien («Sekret» von Ronela Hajati: spektakulär!), aus Zypern («Andromache» von Ela: zweitklassig) und – man staune – aus Frankreich (Alvan & Ahez mit «Fluenn»: cool).
Sieben junge Frauen
Vorbilder zu haben ist für junge Mädchen wichtig. Viele junge Sängerinnen wären gerne wie Dua Lipa oder Ariane Grande. Doch oft wirken sie wie Imitationen. Die «The Voice UK»-Finalistin von 2020, Brook aus Irland, wird mit «That’s Rich» vermutlich am Wettbewerb keine grossen Spuren hinterlassen. Ihr Vorbild ist Blondie, und den Song habe sie geschrieben, nachdem sie Debbie Harry’s Biografie las. Doch diese Fussstapfen sind etwas zu gross für das junge Rock-Girl. Emma Muscat aus Malta hat Castingshow-Erfahrung in Italien gemacht und für den ESC ein Empowerment-Song mit Gospel-Einschlag geschrieben: «I Am What I Am» – etwas gar abgedroschen und schon tausendmal gehört. Im gleichen Fahrwasser schifft Andrea aus Nord Mazedonien. Leider dreht sich ihr Song «Circles» im Kreise statt vorwärts.
Eher Singer-Songwriterin mit britischer Prägung ist Rosa Linn aus Armenien. «Snap» klingt wie ein zweitklassiger Amy Macdonald-Song. Hingegen vielversprechend tönt die 21-jährige Niederländerin Stien den Hollander, die unter dem Künstlernamen S10 auftritt. Sie singt in ihrer Muttersprache «De Diept», was die Tiefe heisst. Tatsächlich ist es kein oberflächlicher Song. Aufhorchen lässt einen auch die griechische Sängerin Amanda Georgiadi Tenfjord, die heute in Norwegen lebt, wo sie Medizin studiert. Ihr Song «Die Together» erinnert etwas an Lorde und wird beim Publikum gut ankommen. Die Vorbilder von Mia Dimšić aus Kroatien sind Taylor Swift und Kacey Musgraves. Entsprechend ist ihr Song «Guilty Pleasure» gefälliger Folk-Pop – nett, aber nicht nachhaltig.
Drei schwule Männer
Ein ESC ohne einen schwulen Sänger ist schon fast undenkbar geworden. Dieses Jahr sind drei dabei. Erstaunlich ist, dass einer für Rumänien nach Turin reist. Das etwas hinterwäldlerische Land ist nicht gerade als homofreundlich bekannt. Deshalb singt der ehemalige Tänzer WRS (ausgesprochen: Urs), der eigentlich Andrei-Ionuț Ursu heisst, und bei den rumänischen TV-Shows «Supertalent» und «The Voice» dabei war, etwas verklausuliert von einem Coming-Out. Aufrechtgehn.de schreibt treffend: «‹Llámame› ist eine Neuauflage des allerersten schwulen Grand-Prix-Kampfliedes ‹Nous, les Amoureux› von 1961 (Video). Wie schon seinerzeit Jean-Claude Pascal beschreibt auch Ursu sich und seinen (…) Partner als von der feindlichen Gesellschaft potentiell bedrohte Liebende (‹Was, wenn sie es herausfinden? Niemand wird es mögen›), entschliesst sich aber, sich ‹der Welt zu zeigen› und ‹es nicht länger zu verstecken›, denn die ‹Liebe kann von niemandem aufgehalten werden›. Einerseits ziemlich traurig, dass es sechs Jahrzehnte später noch immer solche Selbstermächtigungssongs braucht, gerade jenseits des ehemaligen Eisernen Vorhangs. Andererseits: wo, wenn nicht beim Eurovision Song Contest, wäre der richtige Platz dafür?». Da kann ich Oliver Rau von aufrechtgehn.de nur zustimmen. Zudem macht der Dance-Song mit Ethno-Beats Spass!
Ebenfalls ein Versteckspiel treibt der Australier Sheldon Riley. Er trägt gerne Masken und ausgefallene Kleider, allerding nicht, weil er nicht erkannt werden will, sondern wegen seinem Asperger-Syndrom. In seinem Song «Not The Same» geht es um seine schwierige Kindheit: «Ich bin in Sozialwohnungen aufgewachsen, von Haus zu Haus gezogen, ohne mir meiner Sexualität bewusst zu sein, in einer tief religiösen Familie. Mir wurde ein Weg vorgelegt, den ich niemals richtig verstehen konnte und der mich daran hinderte, mit anderen Menschen zu interagieren.» Seine autistische Störung hinderte ihn allerdings nicht daran, von Castingshow zu Castingshow zu gehen und jetzt an der grössten Musikshow der Welt teilzunehmen. Ein mutiger Junge! Sein Song erinnert etwas an den letztjährigen Schweizer Beitrag «Tout l’Univers», doch stimmlich kann er Gjon nicht toppen.
Probleme wie sie Shelden Riley hat, dürften Michael Ben David fremd sein. Der Gewinner von X-Factor Israel strotzt vor Selbstbewusstsein. Im Dancefloorkracher «I.M.» singt er: «I‘m the fire, the power. And if you‘re asking who‘s gonna take it all. You know I am». Dass er sich allerdings mit dieser ziemlich berechnenden – aber wunderbar campen – Nummer auf den Siegespodest tanzen kann, ist eher unwahrscheinlich. Doch es ist genau der richtige Track für das Euro-Disco Tolerdance am 28. Mai im ISC.
Drama oder Humor
Ein hübscher junger Mann mit Herzschmerz kommt beim ESC-Publikum immer gut an. Nadi Rustam singt sich in «Fade To Black» für Aserbaidschan die Seele aus dem Leibe. Wie immer setzt das Land seine Ölmillionen dafür ein, die bewährtesten Songwriter zu kaufen, um am ESC so richtig zu klotzen. Doch ob das autoritär regierte, Russland nahe Land dieses Jahr punkten wird, ist fraglich. Der polnische Voice-Gewinner Ochman will sich im Fluss ersäufen. Wieso, wird im Song «River» nicht ganz klar. Auch rätselhaft ist mir, wieso ihn die Wettbüros auf dem 5. Rang sehen. Dann lieber unsere Heulsuse Marius Baer. Mit seinem Song «Boys Do Cry» wird der Appenzeller zwar nicht an Luca Hännis und Gjon’s Tears Erfolge anknüpfen können, doch schämen muss man sich für den Schweizer Beitrag nicht. «Boys Do Cry» ist ein solider Song mit schönem Text. Die Wettbüros sehen ihn aktuell auf dem 12. Platz (Stand 15. April), in den ESC-Fan-Foren und -Polls kommt er allerdings nicht so gut an. Doch die Vergangenheit hat gezeigt, dass die Buchmacher eher richtig liegen, denn eingefleischte ESC-Fans leiden oft unter einer gewissen «Déformation professionelle». Die Chancen für Marius Baer, den ersten Halbfinal am 10. Mai zu bestehen sind also intakt.
Hoch gehandelt wird Cornelia Jakobs aus Schweden mit der Power-Ballade «Hold Me Closer». Ihre Stimme ist tatsächlich einnehmend, doch der Song etwas sehr 0815. Wie aus der Zeit gefallen ist die Ballade «Breathe» von Vladana aus Montenegro, leider nicht auf eine gute Art. Es wird ein Auftritt, bei dem man kurz auf die Toilette kann, denn du wirst nichts verpassen. Wer Polka und Folklore nicht mag, geht am besten während des Auftritts von Zdob şi Zdub & Fraţii Advahov aus Moldavien zum Kühlschrank. Allerdings wird es witzig, das verspricht zumindest ihr Video zum Lied «Trenuleţul» über eine Zugfahrt von Chișinău nach Bukarest. Ebenfalls auf die Karte Humor setzen Citi Zēni aus Lettland mit einem funky Vegi-Song. Sie singen: «Eat your salad, save the planet». Smoother Discosound bringt die Band LPS aus Slowenien. Die putzigen Jungs spielen ihren Song «Disco» im klassischen 70ties-Stil – jedoch auf Slowenisch gesungen. Jöh! Aber mehr nicht.
Die Auffälligen
Natürlich will am Wettbewerb jede*r auffallen. Das ist auf verschiedenen Arten möglich. Manche machen es mit Spektakel, Provokation und ausgefallen Kostümen, andere versuchen es mit Reduktion, Authentizität und Bescheidenheit – nur wenige mit Qualität.
Konstrakta aus Serbien hat den einzigen Song im Wettbewerb, der auf die Pandemie Bezug nimmt. Sie wäscht sich auf der Bühne in einer Wasserschüssel die Hände und singt «In Corpore Sano», also «In einem gesunden Köper». Ein Song über Körperhygiene und Gesundheit gab es noch nie am Wettbewerb. Vielleicht etwas schräg, aber vergessen wird man diesen Auftritt nicht.
Ein leidenschaftlicher Provokateur ist der Italiener Achille Lauro. Er fiel schon ein paar Mal auf mit seinen Shows am Sanremo-Festival. Dabei fielen seine Outfits jedesmal stärker auf als seine Songs. Auch in diesem Jahr versuchte er es wieder, doch an Mahmood und Blanco war kein Vorbeikommen. Also versuchte Achille Lauro sein Glück in San Marino. Prompt konnte er die Vorentscheidung mit dem Glamrock-Song «Stripper» für sich entscheiden. Dass der tätowierte Rapper dabei halbnackt auf der Bühne steht, ist dem Songtitel geschuldet, und dass er sich zwischendurch in den Schritt greift, gehört zur provokativen Strategie des Römers. Auch am ESC werden sich die Geister an ihm scheiden. Einige werden seine arrogante Art cool finden, andere werden ihn dafür hassen. Nur kalt lässt er keinen.
Malik Harris, der mit «Rockstars» Deutschland vertritt, kann alles. Er singt, rappt, spielt alle Instrumente selbst und natürlich schreibt er auch seine Songs selbst. Doch wie sagt man so treffend? Wer alles kann, kann nichts richtig. Irgendwie mag der Funke nicht überzuspringen. Deutschland wird ein weiteres Mal am ESC auf die hinteren Ränge abgeschoben werden. Dort war in den letzten Jahren auch die UK meistens gelandet. Doch dieses Jahr wird es anders sein. Grossbritannien schickt einen auffallend guten Song nach Turin. Der blonde, langhaarige, bärtige Sänger Sam Ryder hat «Space Man» mit Amy Wadge geschrieben, die Ed Sheerans «Thinking Out Loud» komponierte und mit Max Wolfgang, der den aktuellen Hit «Sweet Talker» von Years & Years schrieb. Es ist den Briten zu gönnen, wenn sie die ESC-Misere der letzten Jahre endlich überwinden können.
Der belgische Voice-Gewinner Jérémie Makiese bringt als einziger Urban-Groove nach Turin, in Form einer dramatischen Gospel-Soul-Ballade. Wow, der Junge kann singen! Bestimmt eine der besten Stimmen in diesem Jahr. Sein Song «Miss You» ist ebenfalls vielversprechend. Sein Auftritt könnte ihm Türen öffnen, um in ganz Europa bekannt zu werden. Watch out for Jérémie Makiese!
Auffallend bescheiden ist der Song «Saudade, Saudade» von Maro, mit dem sich Portugal präsentiert. Maro sitzt mit vier weiteren Frauen im Kreis. Sie klatschen rhythmisch in die Hände und singen melancholisch über Weltschmerz (Saudade). Neben all den nervenaufreibenden Acts werden sie wie Balsam wirken. Ganz ähnliche Gefühle lösen die isländischen Systurs aus. Es sind aber nur 3 Frauen, und anstatt zu klatschen schrummen sie ihre Gitarren. Ihre Melancholie ist nordisch, mit folkigem Einschlag. Eigenartig, um nicht zu sagen skurril, ist der Circus Mircus mit dem Song «Lock Me In». Krautrock aus Georgien, vorgetragen von einem irren Clown, aber zum Glück nur zweieinhalb Minuten kurz.
Meine persönlichen Favoriten
Aus dem Rahmen fällt auch Monika Liu. Als apart kann man die Litauerin mit der Mireille Matthieu-Gedenkfrisur bezeichnen. Ihr Song «Sentimentai» pendelt zwischen Disco-Erotik und laszivem Chanson. In ihrer Heimat ist sie ein Star und jetzt auch bei mir. Sie ist meine Neuentdeckung und persönliche Favoritin.
In mein Herz geschlossen habe ich auch Stefan aus Estland. Ja, der Singer-Songwriter ist schnucklig und wurde in seiner Heimat auch schon zum «Sexiest Man of the Year» gekürt, aber mir gefällt auch sein Country Song «Hope». Seine sonore Stimme, dazu der Spaghettiwestern-Sound à la Ennio Morricone, das Pfeifen am Anfang und der Gospel-mässige Refrain «I hope, I hope». Stefan ist die heterosexuelle Euro-Version des schwulen US-Cowboys Orville Peck.
Wie zu Anfang des Artikels erwähnt wird «Brividi» von Mahmood und Blanco der Sieg zugetraut –zurecht. Das Liebes-Duett ist auch bei mir die Nummer 1. Der Song ist eigenständig, raffiniert und einnehmend – und etwas queer ist er auch noch! Im Video knutscht Mahmoud gar mit einem Mann! Bei mir löst «Brividi» jedes Mal ein Kribbeln aus. Forza Italia!
Ob der Siegespokal aus Solidarität an die Ukraine geht, oder doch ein Song gewinnen wird, der den Geschmack des gesamteuropäischen Publikums trifft, bleibt offen. Auch wenn ich persönlich meine Stimme durchaus auch politisch motiviert abgebe – ich habe beispielsweise noch nie Russland oder Belarus gewählt – hoffe ich doch, dass die Ukraine-Solidarität nicht am ESC gezeigt wird. Ich denke, statt einem Pokal braucht das kriegsversehrte Land jetzt dringend andere Dinge. Präsenz markieren werden sie mit ihrem Auftritt ohnehin, und zeigen können, dass sie sich von einem Aggressor nicht unterkriegen lassen werden.
Dienstag, 10 Mai, 2022, 21 Uhr
Mit der Schweiz
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