WHO veröffentlicht die ICD-11: trans Menschen nicht länger „psychisch und verhaltensgestört“

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat die nächste Version der ICD, weltweit die wichtigste Klassifikation von Krankheiten, veröffentlicht. Darin werden trans Menschen endlich nicht mehr als „psychisch und verhaltensgestört“ stigmatisiert – ein Meilenstein für die globale trans Community! Diese aktuelle ICD 11 wird ab 2022 international und in der Schweiz verwendet werden.
Seit 2007 hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) an der Neufassung des medizinischen Diagnosekatalogs ICD-11 gearbeitet, am 18. Juni 2018 wurde die finale Fassung vorgestellt. Sie umfasst primär folgende Änderungen für trans Menschen:

  • Die Diagnosen werden in Zukunft „Gender Incongruence“ (dt. Geschlechtsinkongruenz) heissen. Es wird nicht mehr von „Transsexualismus“ gesprochen.
  • Gender Incongruence wird nicht mehr als „mental and behavioural disorder” (dt. psychische und Verhaltsstörung) eingestuft, sondern wird im neu geschaffenen Kapitel „conditions related to sexual health“ (dt. Probleme / Zustände im Bereich der sexuellen Gesundheit) eingeordnet sein.
  • Die Diagnose der Geschlechtsinkongruenz referiert nicht auf ein Zweigeschlechtermodell.

TGNS begrüsst diese Ent-Psychopathologisierung, die einen wichtigen Schritt zur psychischen Gesundheit von trans Menschen beitragen wird. Die bisherige Diagnose als psychisch und verhaltensgestört trug massgeblich zu Stigmatisierung und gesellschaftlicher Marginalisierung bei und unterstützte einen massiv paternalistischen Umgang der Medizin mit trans Menschen. Keinen Einfluss wird die neue Diagnose auf die Leistungspflicht der obligatorischen Krankenpflegeversicherung haben.
Unnütze und schädliche Kinderdiagnose
Einen grossen Haken hat die ICD-11 allerdings: Neu eingeführt wird eine Diagnose für trans Kinder vor der Pubertät. Diese Pathologisierung wird durch die weltweite trans Community und auch von TGNS abgelehnt. Denn vor der Pubertät können und müssen noch keine medizinischen Massnahmen ergriffen werden. Entsprechend sind diese gesunden Kinder weder mit einem diagnostischen Prozess zu belasten noch mit einer Diagnose zu behaften. Auch TGNS erlebt in der Begleitung von trans Kindern, dass diese in der Regel nicht zu Ärzt_innen / Psychiater_innen wollen; ein solcher aufgezwungener diagnostischer Prozess kann ihnen mehr Schaden zufügen als helfen. Denn nicht die Kinder brauchen medizinische Behandlung, sondern ihr Umfeld muss lernen, affirmativ mit ihnen umzugehen. In einer nächsten Revision der ICD ist dieser Fehler rückgängig zu machen.
Umsetzung ab 1. Januar 2022
In einem Jahr wird die World Health Assembly, die Vereinigung aller WHO-Mitgliedstaaten, über diese neue ICD-11 abstimmen. Inkrafttreten soll diese dann am 1. Januar 2022. TGNS erwartet vom Bund eine verzögerungsfreie Implementation der ICD-11 in der Schweiz und freut sich, gemeinsam mit den zuständigen Organen diese Aufgabe anzupacken.
Der Wortlaut der neuen Diagnose „Gender incongruence of adolescence or adulthood“ lautet:
„Gender incongruence of adolescence and adulthood is characterized by a marked and persistent incongruence between an individual´s experienced gender and the assigned sex, as manifested by at least two of the following: 1) a strong dislike or discomfort with the one’s primary or secondary sex characteristics (in adolescents, anticipated secondary sex characteristics) due to their incongruity with the experienced gender; 2) a strong desire to be rid of some or all of one’s primary and/or secondary sex characteristics (in adolescents, anticipated secondary sex characteristics) due to their incongruity with the experienced gender; 3) a strong desire to have the primary and/or secondary sex characteristics of the experienced gender. The individual experiences a strong desire to be treated (to live and be accepted) as a person of the experienced gender. The experienced gender incongruence must have been continuously present for at least several months. The diagnosis cannot be assigned prior the onset of puberty. Gender variant behaviour and preferences alone are not a basis for assigning the diagnosis.“
Der Wortlaut der neuen Diagnose „Gender Incongruence of childhood“ lautet:
„Gender incongruence of childhood is characterized by a marked incongruence between an individual’s experienced/expressed gender and the assigned sex in pre-pubertal children. It includes a strong desire to be a different gender than the assigned sex; a strong dislike on the child’s part of his or her sexual anatomy or anticipated secondary sex characteristics and/or a strong desire for the primary and/or anticipated secondary sex characteristics that match the experienced gender; and make-believe or fantasy play, toys, games, or activities and playmates that are typical of the experienced gender rather than the assigned sex. The incongruence must have persisted for about 2 years. Gender variant behaviour and preferences alone are not a basis for assigning the diagnosis.“
 
– Gemäss einer Medienmitteilung von Transgender Network Switzerland

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