Wird Nemo den ESC-Code knacken und für die Schweiz die seit 36 Jahren verschlossene Tür auf den höchsten Podestplatz öffnen? Nemos Kombination ist vielversprechend und hat gute Chancen zu gewinnen. Bei den Wettbüros ist Nemos «The Code» auf Platz 1, dicht gefolgt von Baby Lasagnas «Rim Tim Tagi Dim» und Angelina Mangos «La Noia».
ABBA sei Dank
Vor genau 50 Jahren gewann ABBA in Brighton mit «Waterloo» den Concours Eurovision de la Chanson. Der Song wurde ein Hit und ABBA zur internationalen Popgrösse. Dem Erfolg von ABBA ist es zu verdanken, dass aus dem etwas spiessigen Schlagerwettbewerb der grösste Musikwettbewerb der Welt wurde. Dass letztes Jahr Schweden – bereits zum siebten Mal! – gewonnen hat, ist bestimmt reiner Zufall. ABBA-Fans hoffen jetzt, dass in Malmö der legendäre Sieg von 1974 ausgiebig gefeiert wird. Die Stars an den drei Fernsehabenden des Songwettbewerbs werden jedoch die Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus 37 Nationen sein. Für einige von ihnen wird der Kampf um den Sieg zum «Waterloo», denn wirklich gute Songs sind in diesem Jahr rar.
Top gesetzt: Kroatien, Schweiz und Italien
Im Vorfeld des Eurovision Song Contest wird gerne ausgiebig darüber spekuliert, wer den grössten Musikwettbewerb der Welt gewinnen wird. Da sind nicht nur die Stimmen der Fans wichtig. Es werden auch gerne Zahlen genannt, wer wie oft gestreamt wird und wem die Wettenden am ehesten den Sieg zutrauen. Die Wettbüros setzen auf Nemos «The Code» als Siegersong, dicht gefolgt von «Rim Tim Tagi Dim» von Baby Lasagna aus Kroatien und der Italienerin Angelina Mango mit «La Noia». Nemo ist zurecht top gesetzt. Was zuversichtlich stimmt ist, dass Nemo nachdem ersten Live-Auftritt, sofort auf den ersten Platz vorrückte. Nemo hat gezeigt, dass er*sie das Lied mit den vielen musikalischen Wendungen und dem unglaublichen Sirenengesang, live rüberbringen kann.
Der Auftritt von Baby Lasagne wird bestimmt Spass machen. Doch erinnert sein Song «Rim Tim Tagi Dim» etwas zu sehr an den letztjährigen Beitrag «Cha Cha» des Finnen Käärijä. Die Erfolgssongs zu kopieren ist ein bewährtes ESC-Rezept. Wäre es nach dem Publikum gegangen, fände der ESC dieses Jahr in Finnland statt. Doch die Jurystimmen hievten 2023 die Wiedergängerin Loreen aus Schweden auf das Podest. Es ist jedoch möglich, dass Baby Lasagna, der im Video zu seinem Song aussieht wie ein wütender Geissenpeter, gewinnen könnte. Bei den Streamingzahlen hat der Kroate die Nase vorne.
Die Italiener kommen immer gut an beim europäischen Publikum. Wer Sanremo gesehen hat, weiss: Italien hat viele gute Songs zu bieten. Mir persönlich wäre es lieber gewesen, Annalisa hätte das Festival della Canzone Italiana gewonnen mit ihrem wie für den ESC geschaffenen Ohrwurm «Sinceramente». Doch auch der Sanremo-Siegersong «La Noia» von Angelina Mango ist originell, bringt er doch einen Sound an den ESC, den es dort noch nie gab: Cumbia. Die lateinamerikanischen Sommerrhythmen können begeistern.
Die Wiwibloggs-Fans lieben den Beitrag aus den Niederlanden: «Europapa» von Joost Klein. Er ist sowas wie der DJ Bobo der Comedy. Mit 16 Millionen Views ist «Europapa» auf YouTube der meistgesehenen ESC-Beitrag 2024. Nemo wurde zum Vergleich nur 2 Millionen und Baby Lasagna 1,1 Millionen Mal angesehen (Stand 1. April). Schaut mensch auf die Streamingzahlen bei Spotify, sieht es etwas anders aus. Aber die bereits erwähnten Songs gehören auch dort zu den Favoriten.
Viel Nonsens, wenig Gehaltvolles
Doch ich höre mir die Songs mal genauer an und fälle mein Urteil. Ich verlasse mich dabei auf meinen Geschmack als TolerDance-DJ und QueerUp-Radio Sendungsmacher und auf meine jahrzehntelange Erfahrung als ESC-Fan. Gleich vorweg: Einen zwingenden Siegersong ist in diesem Jahr nicht auszumachen. Das Rennen ist offen, und das ist gut so. Musikalisch schlagen die meisten Song denselben Ton an, und der ist laut und etwas dümmlich. Viel Nonsens, wenig Gehaltvolles. Für jemanden wie mich, der gutes Songwriting und gute Stimmen schätzt, sind die meisten Beiträge eine Zumutung.
Gutes Songwriting und gute Stimme zeigen die Songs aus Frankreich und Deutschland. Slimane bringt genau das, was man aus Frankreich erwartet: Ein Chanson, das einen Titel trägt, den jede und jeder versteht: «Mon Amour». Das hat 2021 schon bei «Voilà» von Barbara Pravi gut funktioniert. Damals gabs den 2. Platz. Doch so gut wird Slimane, der 2016 The Voice France gewann und seitdem in Frankreich sehr erfolgreich ist, nicht abschneiden.
Eine Powerballade, die diesen Titel tatsächlich verdient, ist «Always On The Run» von Isaak, der für Deutschland ins Rennen geht. Gutes Songwriting und eine sehr starke Stimme. Doch irgendwie hat man das Gefühl, diesen Song schon mal gehört zu haben. Er ist typisch ESC. Das gleiche Gefühl hatte ich bei «Hurrican» von Eden Golans die für Israel antritt, und vielen anderen Songs auch.
Déjà-vu
Beim Durchhören der Songs hatte ich immer wieder ein Déjà-vu. Die meisten wurden nach demselben Rezept produziert. Man nehme einen Techno-Beat aus den 90er-Jahren, füge ein paar krachende Gitarren und ein folkloristisches Instrument dazu und singt ein paar Wortwiederholungen oder stakkato-artige Laute. Dieses Rezept brauchten Gåte mit «Ulveham» (Norwegen), die Armenier Ladaniva mit «Jako», die Esten 5MIINUST x Puuluup mit «(nendest) narkootikumidest ei tea me (küll) midagi» und Megara (San Marino) mit «11:11».
Finnland schickt das Duo Windows94man an den Liederwettbewerb nach Malmö. Ihr Song «No Rules!» klingt genauso, wie der Bandname andeutet, nämlich wie ein veraltetes Betriebssystem, das ein Update nötig hat. Das ist Nostalgie, was vielen zu gefallen scheint. Mir nicht.
Auch die Österreicherin Kaleen ist in den 90ern stecken geblieben mit ihrem Song «We Will Rave». Immerhin sind im dazugehörigen Video Heidi Klums Male-Models aus der aktuellen GNTM-Staffel halbnackt zu sehen.
Offensichtlich wollen die Schweden nicht wieder gewinnen. Die Twin-Teenager Marcus & Martinus sind zwar putzig, doch ihr Song «Unforgettable» ist belanglos und – schon wieder! – mit einem 90s-Disco-Beat unterlegt.
Das spanische Duo Nebulossa ist in den 80ern steckengeblieben. Ihr Song «ZORRA» – was so viel heisst wie Schlampe, und deswegen kurz ein Aufreger in der Presse war – ist toll! Die Studioproduktion klingt fantastisch nach 80s, ich werde sie an der Tolerdance EuroDisco am 25. Mai bestimmt spielen. Nur schade, dass Mary Bas, die Ü50-Sängerin und selbsternannter Freigeist, es beim Live-Gesang nicht ganz bringt.
Queers am ESC
Darüber, wieso der Eurovision Song Contest bei queeren Menschen so bliebt ist, gibt es viele Theorien. Die eine ist offensichtlich: Die Auftritte am ESC sehen oft aus wie eine Dragshows, also masslos übertrieben und sehr camp. Da fühlt queer sich gleich zuhause. Eine andere Theorie besagt, dass insbesondere politisch bewegte, schwule Männer in den 70er-Jahren den ESC für sich proklamierten, um sich von den Hetero-Linken abzugrenzen, die den Schlagerwettbewerb für spiessig und bürgerlich hielten. Aber am ESC werden nicht nur Musik und Show geboten, es ist auch ein Wettbewerb. Straights mögen es eher, wenn Männer versuchen einen Ball in ein Tor zu schiessen, Queers bevorzugen Party und schrille Klamotten. Zusehen, wie Menschen sich messen, lieben beide. So wie Cis-Jungs von der Teilnahme an einer Fussballweltmeisterschaft träumen, haben queere Teenager den Traum, einmal auf der Eurovisionsbühne zu stehen. Neun Menschen, die sich in irgendeiner Form als queer definieren, haben ihren Traum erfüllt. Wir sind stolz, dass sich so viele Queers einem Millionenpublikum zeigen und nicht nur ihre Nation, sondern auch die LGBT-Community vertreten.
Selbstverständlich bin ich als Schweizer und Teil der LGBT-Community extrem stolz darauf, von Nemo am ESC vertreten zu werden. Der Song «The Code» kommt bei Fans, Wettenden und in der Presse gut an – auch bei mir. Nicht nur Nemo als Persönlichkeit, auch der Song heben sich vom Durchschnitt ab, ohne dabei abgehoben zu wirken. Nemo ist ein sympathisches Wesen, das Herzen erobern kann. Der Rüschen-Exzess bei der Kleiderwahl wird Nemo gerne verziehen. Ein Sieg liegt durchaus drin, zumindest in der inoffiziellen Kategorie «Euro-Queers».
Nemos queere Konkurrenz
Die elegante Saba ist stolz darauf, die erste braune, queere Frau zu sein, die für Dänemark an den ESC geht. Auf den Song «Sand» sollte sie aber nicht zu stolz sein, denn der ist leider nur ESC-Durchschnitt. Doch singen kann sie. Ähnliches lässt sich über den extravaganten Mustii aus Belgien sagen. Thomas Mustin ist Autor, Komponist, Schauspieler, Sänger und Juror von Drag Race Belgique. «Bevor The Party is over» heisst sein Song, jedoch will die Party nicht recht zünden.
Bambie Thug geht für Irland nach Malmö. Bambie Thug durchbricht Geschlechter- und gesellschaftspolitische Stereotypen, um einen Sound zu kreieren, der sich bei Pop, Rock, Elektronik bedient. Bambie Thug nennt das Ouija-Pop. Wie Nemo wählte Bambie die Identitäsbezeichung gender non-binary. Der Song? «Dommsday Blue» ist crazy, aber Nemo ist crazier!
Der Brite Olly Alexander kommt als berühmtester Queer zum Wettbewerb. So hatte er unter dem Namen Years&Years bereits Charterfolge in ganz Europa und bekam viel Anerkennung für seine Rolle in der TV-Serie «It’s a Sin» über die Aidskrise in den 80er-Jahren in England. Er nutzt die ESC-Bühne, um den Namen Years&Years abzulegen und fortan unter seinem bürgerlichen Namen Olly Alexander aufzutreten. Sein Beitrag «Dizzy» klingt wie ein vergessener Song von den Pet Shop Boys, was per se nicht schlecht ist. Doch wäre es schlauer gewesen, er hätte die Pet Shop Boys um Hilfe gebeten beim Produzieren – für das gewisse Extra. Auch hier gilt: Nemo ist besser.
Der Kleinstaat San Marino bietet hoffnungsvollen ESC-Wannabes eine zweite Chance. Wenn es in der Heimat nicht funktioniert mit der Qualifikation, kann mensch es in San Marino versuchen. Die Chance genutzt hat die spanische Metalband MEGARA. Die lesbische Sängerin Kenzy sagt, ihre Band steht für Inklusivität. Bei ihnen hat es Platz für Headbanger und Einhörner. Wer auf Heavy Metal steht, wird den Banger «11:11» bestimmt mögen. Aber für mich ist das nichts.
Silvester Belt aus Litauen schöpft für seine Songs aus seinen persönlichen Lebenserfahrungen. Prägend waren für ihn die Erforschung seiner Sexualität in einem homophoben Umfeld, und wie die Unterdrückung dieser Gefühle ihn verunsicherten. Bei «Luktelk» (Übersetzung: warten/durchhalten) geht es darum, in der Schwebe zwischen zwei Stadien zu stecken, in denen man kaum existieren kann und das am besten tanzend durchlebt.
Bei Zaachariah Fielding, die weibliche Hälfte des australischen Duos Electric Fields, ist nicht ihre Queerness oder dass sie Aborigines ist das, was sie abhebt von den anderen. Es ist ihre fantastische Stimme! Ihr Lied «One Milkali (One Blood)», das sie mit ihrem schwulen Duettpartner Michael Ross geschrieben hat, wird teilweise in Yankunytjatjara gesungen, die Sprache des Anangu-Volkes, einer der ältesten lebenden Kulturen der Erde. Mir gefällt der Song, doch den meisten offensichtlich nicht. Ihm werden nur geringe Chancen eingeräumt, den Halbfinale zu überstehen.
Für mich ist klar: Euro-Queer 2024 ist Nemo.
ESC niemals allein schauen!
Den Eurovision Song Contest sollte man sich, wenn immer möglich, zusammen mit anderen Menschen anschauen. Es macht so viel mehr Spass! Weil sie den Sieg von Nemo aus dem Kanton Bern wittern, lädt das Bierhübeli am 11. Mai zum Public Viewing des Finales ein. Sie scheinen sich sicher zu sein, dass Nemo das Halbfinale am 9. Mai überstehen wird. Ich bin mir da genauso sicher.
Oder machst du es wie ich und lädst zum ESC schauen Freund*innen ein? Ich stelle jeweils ein Buffet auf mit Spezialität aus dem Land, wo der ESC stattfindet. (Ich muss unbedingt vorher noch in den Blau-Gelben Möbelladen.) Meine Food-Station ist oft geschmackvoller als die Songs an der Eurovision. Es gibt einige Beiträge, bei denen du dich vom Bildschirm lösen kannst, um dich am Buffet – oder im Bierhübeli an der Bar – einzudecken. Die Pausensongs, die einfach nur langweilig sind, das übliche ESC-Pop Gedöns halt, zum einen Ohr rein, zum andern gleich wieder raus. Dazu gehören «Titan» von Besa aus Albanien, «Özünlə Apar» von FAHREE aus Aserbeidschan, «Liar» der Zypriotin Silia Kapsis, «Firefighter» von Nutsa Buzaladze (Georgien), «Zari» von Marina Satti (Griechenland), «Hollow» von Dons (Lettland), «Loop» von Sara Bonnici (Malta), «In The Middle» von Natalia Barbu (Moldavien), «The Tower» von Luna aus Polen, «Grito», Portugals Beitrag von iolanda und «Raiven» von Veronika (Slovenien).
Doch besser du bleibst vor der Glotze sitzen, wenn Aiko aus Tschechien mit dem rockigen «Pedestal» auftritt und das Frauenduo alyona alyona & Jerry Hei, die für die kriegsgeplagte Ukraine mit dem Song «Teresa & Maria» antreten. Beide sind irgendwie cool. Eingefleischte queere Fans werden sich an Hera Björk erinnern. Sie holte 2010 für Island nur den 19. Platz mit dem Song «Je Ne Sais Quoi». Doch bei Queers war der Song ein Hit. Nun macht sie es wie Loreen und kommt zurück. Wir werden sie lieben! Doch ehrlicherweise muss man sagen, dass sie vermutlich noch schlechter abschneiden wird als 2010. Ganz bestimmt musst du am Donnerstag, 9. Mai vor deinem TV-Gerät sitzen bleiben und die Daumen drücken, wenn Nemo mit der Startnummer 4 im zweiten Halbfinale antritt.
Wird das Wunder von Malmö geschehen und Nemo für die Schweiz den Sieg holen? Ich sage es alle Jahre wieder: Es wird sich erst entscheiden, wenn alle Acts auf der ESC Bühne gelaufen sind. Vorarbeit, also ein gutes Video, Auftritte an Fan-Festivals, Pressearbeit und Präsenz auf den Sozialen Medien sind zwar wichtig, aber erst der Live-Auftritt wird zeigen, ob der Song ankommt oder nicht.
Welche Songs gefallen dir? Wer ist dein Favorit? Was findest du besonders grässlich? Schreib uns deine Meinung zu den ESC Songs 2024.
Alle 37 Songs im Schnelldruchlauf
Playlist by DJ Ludwig
LGBTQ*Artists at the Eurovision Song Contest.