Voranschreiten

Heute Morgen habe ich mein Profilbild in meinem Facebook geändert. Es entstand am Freitag vor der pride ouest 2017 als ich zusammen mit einem Freundesfreund die Statuten und Brunnen der Stadt Bern regenbogenfarbenverzierte. Ich liebe es. Es ist ein Symbol für das Voranschreiten im Leben als schwuler Mann, mit Ecken und Kanten, nicht immer zielgerichtet, aber den Umständen des Lebens folgend.

denn ja auch ich gehöre dazu – seit mindestens 20 Jahren

Plötzlich erschien die Nachricht, dass sich Conchita (die Wurst ist abgelegt), nein Tom (Thomas) Neuwirth, in einem bemerkenswerten Schritt – um einem erpresserischen Ex zuvorzukommen – samt allen scheinbar immer noch notwendigen Aufklärungen erklärte, seit Jahren HIV+ zu sein. Ich habe ihn im Kommentar im „Club“ willkommen geheissen, denn ja auch ich gehöre dazu – seit mindestens 20 Jahren.
Das Beglückende an meiner Situation ist, dass ich – ungleich vieler anderer vor 1996 verstorbenen Menschen – schon von den Dreier-Therapien profitieren konnte, und nach zwei Schieflagen 2002 und 2004 seither wieder voranschreiten konnte und kann. Mein Ziel ist, der Menschheit, den „Communities“ noch so viel zurückzugeben, wie ich kann (auch wenn ihr/ihnen das Zurückgegebene nicht immer in den Kram passt).
Da sitze ich nun also und habe den Faden eines ganzen Wollknäuels (mit vielen Knöpfen – wie in einem Rosenkranz?) in den Fingern. Sie erinnern mich an meine verschiedenen Überlegungen und Entwicklungen: Von der erstaunten Reaktion meines Arztes, der Verweigerung der medikamentösen Therapie, den Versuchen mit alternativen Therapien, über den Zusammenbruch 2002 mit einsetzender Therapie, den zweiten Einbruch 2004, die lange Konvaleszenz, den Vorschlag/die Androhung des Chefs mich in die Invalidität zu schicken, mein Aufbäumen und die folgenden Jahre bis heute.
Und da kommen wir zu Pudels Kern: Der HIV+-Status geht niemanden etwas an: weder die Öffentlichkeit, das weitere Umfeld noch den Arbeitgeber, die Versicherungen, die Arbeitskolleg*innen. Wem der Status mitgeteilt wird, hängt von der Qualität der persönlichen Beziehungen und das in sie gesetzte Vertrauen ab oder eventuell von ärztlich-medizinischen Auflagen oder Beziehungsrücksichten. Persönlich war ich diesbezüglich sehr zurückhaltend, sogar bis in den engeren Familienkreis.
Obwohl … Wie soll sich die Gesellschaft daran gewöhnen und akzeptieren, dass der HIV heute behandelbar (nicht heilbar) ist und die befolgte Therapie die Virusübertragung hemmt und insgesamt eine gute, wenn nicht uneingeschränkte Lebensqualität ermöglicht? Aber darum geht es hier nicht in erster Linie.
Toms Beispiel zeigt, dass das Denunzieren oder Erpressen mit der Veröffentlichung des HIV-Status überhaupt heute noch möglich ist. Das ist verwerflich und unwürdig. Leider bin ich überzeugt, dass dies auch in der Schweiz noch möglich ist, trotz aller Aufklärungs- und Sensibilisierungsarbeit der AHS, der regionalen Aids-Hilfen, der (verflossenen) LHIVE-Gruppe und des Positiv-Rates.
Nur wenn diejenigen, die es sich aufgrund ihrer persönlichen Lebenssituationen zumuten können, offen, überzeugt und selbstbewusst hin- und dazustehen, oder wie Marcel Dams (https://www.facebook.com/marceldausk) in seinem bemerkenswerten Beitrag ausdrückt, „uns aktiv gegen Stigma und Scham wehren“, wird sich ändern, was sich ändern muss: Wir können über HIV+ sprechen, wie andere über Krebs oder Diabetes sprechen.
War das heute alles ein Zufall oder eben einer dieser Lebensumstände? Jedenfalls beweisen Tom/Conchita und zehntausende andere Menschen, dass wir uns von diesem verdammten Virus (dank der Medizin) nicht unterkriegen, diskriminieren, stigmatisieren, erpressen, unbegründet invalidisieren lassen und auf unseren Wegen mutig und zuversichtlich voranschreiten.
Viel Kraft und Glück uns allen!
Max Krieg

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